MÜNCHEN (BLK) – 2009 ist bei der Lyrikedition 2000 Ludwig Steinherrs Gedichtband „Kometenjagd“ erschienen.
Klappentext: Für Ludwig Steinherr ist das Staunen die Voraussetzung für die Produktion von Gedichten — wie die Fähigkeit zum Erstaunen, die noch aus der Kindheit rührt, für die Kunstproduktion überhaupt. Mit „Kometenjagd“ wendet sich Steinherr wieder Themen aus Kunst und Wissenschaft zu, huldigt den Astronomen der Vergangenheit und begegnet dabei nicht selten Engeln und Dämonen. Viel ist von „Jenseits“, „Zwischenreich“ oder auch der „Unterwelt“ und „Feuertod“ die Rede. In barocken Anspielungen lebt Nostradamus wieder und hält das Jüngste Gericht Einzug. Man begegnet einer ausgewählten Schar an Künstlern von Jackson Pollock über Eduard Manet bis Piero della Francesca und wird die ängstliche Spannung eines Vogeldaseins mitempfinden: „Beim Füttern der Vögel//Hochempfindliche Granaten/ aus Federn und Furcht/ die beim geringsten Geräusch/ in die Luft fliegen – // Nach jeder Detonation/ stellen sie fest: Wir sind noch da!“
Ludwig Steinherr, geboren 1962 in München, studierte Philosophie und promovierte 1995 mit einer Arbeit über Hegel und Quine. Er lebt als freier Schriftsteller und Lehrbeauftragter für Philosophie in München. Für seine bisher erschienenen neun Gedichtbände erhielt Steinherr mehrere Auszeichnungen, darunter den Staatlichen Förderpreis für Literatur (1991), den Leonce-und-Lena-Förderpreis (1993), den Evangelischen Buchpreis und den Hermann-Hesse-Förderpreis (beide 1999). Seit 2003 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. In der Lyrikedition 2000 erschienen bisher die Gedichtbände „Fresko, vielfach übermalt“ (2002), „Hinter den Worten die Brandung“ (2003), „Musikstunde bei Vermeer“ (2004), „Die Hand im Feuer“ (2005) und „Von Stirn zu Gestirn“ (2007). (köh/mül)
Leseprobe:
©Lyrikedition 2000©
Hand des Neugeborenen
Wie sie sich öffnet
schließt
wie sie umhergreift
blind
im sanften Rhythmus —
eine Seelilie
die sich ernährt
vom Staunen
Lettern
Ein Schaufenster
voller roter Hände
wild gestikulierend —
Gebärdensprachschule
steht darüber —
Tritt nicht ein!
flehen die roten Hände —
sonst sind wir geschieden
von Wolken und Bäumen
sonst verstummen wir
für immer
Schon das Atom
ist infiziert
ist angreifbar
verführbar
zu Schmerz Lust
Licht und Dunkel
zu rotem Gewitter
spaltendem Blitz
zu Fressen und
Gefressenwerden
zum stillen Vergnügen
metaphysischer
Spiele
Tontäfelchen mit dem
ersten Alphabet der Welt
Das war schon
viel später —
Da war alles
längst geschehn —
Ohne Zeugnis
das erste gestammelte
Wort
dieser Atomblitz
der die selbstvergessene Schöpfung
für immer
kontaminiert hat
mit Geist
Baum der Erkenntnis
Ja, so wünscht man sich das —
erst den Samen verstehn
dann die hervortreibenden
weißlichen Wurzeln
den hellgrünen Trieb
dann mit Termitenfleiß aufwärts
den emporwachsenden Stamm
dann Ast um Ast
und Zweig um Zweig
und Blatt um Blatt
den traumentlaubten Wipfel —
Erst die Feder verstehn
(gepünktelt getüpfelt
ihr Blau oder Gold)
dann die Kralle
den Schnabel
dann das zierlich
ins Nichts gehängte Mobile
des Skeletts
dann tief im Gefiederbüschel
das glanzberaubte
Dunkel des Augs —
Aber da schillert
der Regenwald
voller Gekreisch
ein Gewirr gleißender Klingen
und du weißt nicht
was dir entgegenschießt —
Blätter?
Vögel?
Ein Gedicht?
Warum schreiben Sie keine Romane?
Der Augenblick
des aufblühenden Fensterladens —
Der Hall meiner Schritte
auf erwachenden Straßen —
Die langsame Geburt
einer Frucht
aus dem Dunkel —
Ein Gesicht
vom Frühlicht
sanft erkundet —
Ich kann mich nicht
losreißen
vom endlosen Morgen
der Dinge
Jetzt
Dieser Morgen
verstört mit seinem
fanatischen
alles bejahenden Licht —
irgendwo
gerade jetzt
tickt ein Zeitzünder
verspritzt eine Arterie ihr Blut
gerät ein Mund
unter Wasser —
und dabei zittert
dieser Morgen
unter den Fingerspitzen
des jungen Mädchens
das drüben
auf dem Balkon
seinem Freund
zum ersten Mal
die Haare schneidet
Der Kometenjäger
(Pierre Méchain, 1744–1804)
Er entdeckte
in seinem Leben
8 Kometen
und 26 Deep-Sky-Objekte
darunter einen Kugelsternhaufen
und zwei Galaxien —
Im Tosen der Französischen
Revolution
versuchte er die Länge
des Meridians
von Dünkirchen bis Barcelona
zu vermessen —
Wurde verhaftet
weil Revolutionäre seine Instrumente
für Waffen hielten —
Verlor sein Vermögen
und starb bei seiner letzten
Expedition in Spanien
am Gelbfieber —
Aber das Urmeter
nach seinen Messungen berechnet
liegt seither in Paris
im Stahlschrank —
0,2 mm zu kurz
aufgrund eines Fehlers —
seltsames Messingstück
Kuriosität
nutzlos und melancholisch
wie ein Gedicht
Grosse Ferien
Die dunklen Tafeln
in den verlassenen Klassenzimmern —
Milchstraßen von Kreidestaub
erhellen spärlich
ihre Unermeßlichkeit —
Verstreute Lettern
vergessen ihr Latein
ihr Griechisch
verfallen wieder ins
orphische Kindergestammel
des Anfangs —
Rastlose Dreiecke
endlich aus ihrem muffigen Karton
freigelassen
flattern zurück
als Schmetterlinge
auf die Sommerwiese
der Ideen
wo Platon ihnen zärtlich
den Zeigefinger hinhält —
Nur die dunklen Tafeln
starren reglos —
Schwarze Löcher
unersättlich
begierig
nach Zukunft
nach Leben
©Lyrikedition 2000©
Literaturangaben: STEINHERR, LUDWIG: Kometenjagd. Gedichte. Lyrikedition 2000, München 2009. 112 S., 12,50 €.
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