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Das Staunen als Urgrund

Gedichte als neuer Zugang zur Welt

© Die Berliner Literaturkritik, 29.06.09

MÜNCHEN (BLK) – 2009 ist bei der Lyrikedition 2000 Ludwig Steinherrs Gedichtband „Kometenjagd“ erschienen.

Klappentext: Für Ludwig Steinherr ist das Staunen die Voraussetzung für die Produktion von Gedichten — wie die Fähigkeit zum Erstaunen, die noch aus der Kindheit rührt, für die Kunstproduktion überhaupt. Mit „Kometenjagd“ wendet sich Steinherr wieder Themen aus Kunst und Wissenschaft zu, huldigt den Astronomen der Vergangenheit und begegnet dabei nicht selten Engeln und Dämonen. Viel ist von „Jenseits“, „Zwischenreich“ oder auch der „Unterwelt“ und „Feuertod“ die Rede. In barocken Anspielungen lebt Nostradamus wieder und hält das Jüngste Gericht Einzug. Man begegnet einer ausgewählten Schar an Künstlern von Jackson Pollock über Eduard Manet bis Piero della Francesca und wird die ängstliche Spannung eines Vogeldaseins mitempfinden: „Beim Füttern der Vögel//Hochempfindliche Granaten/ aus Federn und Furcht/ die beim geringsten Geräusch/ in die Luft fliegen – // Nach jeder Detonation/ stellen sie fest: Wir sind noch da!“

Ludwig Steinherr, geboren 1962 in München, studierte Philosophie und promovierte 1995 mit einer Arbeit über Hegel und Quine. Er lebt als freier Schriftsteller und Lehrbeauftragter für Philosophie in München. Für seine bisher erschienenen neun Gedichtbände erhielt Steinherr mehrere Auszeichnungen, darunter den Staatlichen Förderpreis für Literatur (1991), den Leonce-und-Lena-Förderpreis (1993), den Evangelischen Buchpreis und den Hermann-Hesse-Förderpreis (beide 1999). Seit 2003 ist er Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. In der Lyrikedition 2000 erschienen bisher die Gedichtbände „Fresko, vielfach übermalt“ (2002), „Hinter den Worten die Brandung“ (2003), „Musikstunde bei Vermeer“ (2004), „Die Hand im Feuer“ (2005) und „Von Stirn zu Gestirn“ (2007). (köh/mül)

Leseprobe:

©Lyrikedition 2000©

Hand des Neugeborenen

Wie sie sich öffnet

schließt

wie sie umhergreift

blind

im sanften Rhythmus —

 

eine Seelilie

die sich ernährt

vom Staunen

 

 

Lettern

Ein Schaufenster

voller roter Hände

wild gestikulierend —

 

Gebärdensprachschule

steht darüber —

 

Tritt nicht ein!

flehen die roten Hände —

 

sonst sind wir geschieden

von Wolken und Bäumen

sonst verstummen wir

für immer

 

 

Schon das Atom

ist infiziert

ist angreifbar

verführbar

zu Schmerz Lust

Licht und Dunkel

zu rotem Gewitter

spaltendem Blitz

zu Fressen und

Gefressenwerden

zum stillen Vergnügen

metaphysischer

Spiele

 

 

Tontäfelchen mit dem

ersten Alphabet der Welt

Das war schon

viel später —

 

Da war alles

längst geschehn —

 

Ohne Zeugnis

das erste gestammelte

Wort

 

dieser Atomblitz

 

der die selbstvergessene Schöpfung

für immer

kontaminiert hat

 

mit Geist

 

 

Baum der Erkenntnis

 

Ja, so wünscht man sich das —

 

erst den Samen verstehn

dann die hervortreibenden

weißlichen Wurzeln

den hellgrünen Trieb

dann mit Termitenfleiß aufwärts

den emporwachsenden Stamm

dann Ast um Ast

und Zweig um Zweig

und Blatt um Blatt

den traumentlaubten Wipfel —

 

Erst die Feder verstehn

(gepünktelt getüpfelt

ihr Blau oder Gold)

dann die Kralle

den Schnabel

dann das zierlich

ins Nichts gehängte Mobile

des Skeletts

dann tief im Gefiederbüschel

das glanzberaubte

Dunkel des Augs —

 

Aber da schillert

der Regenwald

voller Gekreisch

ein Gewirr gleißender Klingen

und du weißt nicht

was dir entgegenschießt —

 

Blätter?

Vögel?

Ein Gedicht?

 

 

Warum schreiben Sie keine Romane?

Der Augenblick

des aufblühenden Fensterladens —

 

Der Hall meiner Schritte

auf erwachenden Straßen —

 

Die langsame Geburt

einer Frucht

aus dem Dunkel —

 

Ein Gesicht

vom Frühlicht

sanft erkundet —

 

Ich kann mich nicht

losreißen

vom endlosen Morgen

der Dinge

 

 

Jetzt

Dieser Morgen

verstört mit seinem

fanatischen

alles bejahenden Licht —

 

irgendwo

gerade jetzt

tickt ein Zeitzünder

verspritzt eine Arterie ihr Blut

gerät ein Mund

unter Wasser —

 

und dabei zittert

dieser Morgen

unter den Fingerspitzen

des jungen Mädchens

das drüben

auf dem Balkon

seinem Freund

zum ersten Mal

die Haare schneidet

 

 

Der Kometenjäger

(Pierre Méchain, 1744–1804)

 

Er entdeckte

in seinem Leben

8 Kometen

und 26 Deep-Sky-Objekte

darunter einen Kugelsternhaufen

und zwei Galaxien —

 

Im Tosen der Französischen

Revolution

versuchte er die Länge

des Meridians

von Dünkirchen bis Barcelona

zu vermessen —

 

Wurde verhaftet

weil Revolutionäre seine Instrumente

für Waffen hielten —

 

Verlor sein Vermögen

und starb bei seiner letzten

Expedition in Spanien

am Gelbfieber —

 

Aber das Urmeter

nach seinen Messungen berechnet

liegt seither in Paris

im Stahlschrank —

 

0,2 mm zu kurz

aufgrund eines Fehlers —

 

seltsames Messingstück

Kuriosität

nutzlos und melancholisch

 

wie ein Gedicht

 

 

Grosse Ferien

 

Die dunklen Tafeln

in den verlassenen Klassenzimmern —

 

Milchstraßen von Kreidestaub

erhellen spärlich

ihre Unermeßlichkeit —

 

Verstreute Lettern

vergessen ihr Latein

ihr Griechisch

verfallen wieder ins

orphische Kindergestammel

des Anfangs —

 

Rastlose Dreiecke

endlich aus ihrem muffigen Karton

freigelassen

 

flattern zurück

als Schmetterlinge

auf die Sommerwiese

der Ideen

wo Platon ihnen zärtlich

den Zeigefinger hinhält —

 

Nur die dunklen Tafeln

starren reglos —

 

Schwarze Löcher

unersättlich

begierig

 

nach Zukunft

nach Leben

©Lyrikedition 2000©

Literaturangaben: STEINHERR, LUDWIG: Kometenjagd. Gedichte. Lyrikedition 2000, München 2009. 112 S., 12,50 €.

Weblink:

Lyrikedition 2000


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