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„Das tote Herz“

Andrew Taylors Buch sprengt den Rahmen der historischen Kriminalliteratur

© Die Berliner Literaturkritik, 28.12.09

MÜNCHEN(BLK) – Der Goldmann Verlag hat im August 2009 Andrew Taylors Roman „Das tote Herz“ veröffentlicht. Dieser wurde aus dem Englischen von Isabel Bogdan übersetzt.

Klappentext: Der Legende nach soll einst der Teufel am Bleeding Heart Square in London getanzt und eine Frau verführt haben. Alles, was von ihr übrig blieb, war ihr Herz. Doch im Jahr 1934 glaubt man nicht mehr an den Teufel. Auch Lydia Langstone nicht, die die dortige Wohnung ihres Vaters nur als Zuflucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann aufgesucht hat. Dann aber erfährt sie von dem plötzlichen Verschwinden der Hausbesitzerin und von den Päckchen, die regelmäßig vor der Tür des Hausverwalters gefunden werden und die alle ein verwesendes Herz enthalten.

Andrew Taylor wurde 1951 in Stevenage, England, geboren. Er ist der Autor zahlreicher preisgekrönter Kriminalromane in der Tradition von Ruth Rendell und Elizabeth George. Die Krimis aus seiner Lydmouth-Serie mit Detective Inspector Richard Thornhill und der Journalistin Jill Francis gelten als Meilensteine des Genres. Parallel dazu verfasste Andrew Taylor die Roth-Trilogie. Andrew Taylor wurde bereits mit dem „Edgar Award“, dem „John Creasy Memorial Award“ der Crime Writers’ Association (CWA) und zweimal mit dem „Historical Dagger“ ausgezeichnet. (olb/ros)

Leseprobe:

©Goldmann©

Manchmal machst du dir selbst Angst. Aber was genau bedeutet diese Angst? Ist sie eine Strafe? Verzweiflung? Erlösung? Darauf hast du keine Antwort. Du sagst dir selbst, dass es mehr als vier Jahre zurückliegt, dass es egal ist, und dass nichts, was du heute tust, noch etwas ändern könnte. Aber du hörst nicht auf dich, nicht wahr? Du kehrst immer wieder zu dem vertrackten grünen Büchlein zurück.

Donnerstag, 2. Januar 1930

Morgen fahre ich zum ersten Mal zum Bleeding Heart Square. Es war die Idee des jungen Mr. Orburn. In Gedanken nenne ich ihn immer noch den jungen Mr. Orburn, obwohl er inzwischen 35 oder 40 sein muss, wenn nicht älter. Aber er ist der junge im Gegensatz zu seinem Vater, der früher immer zu meiner Tante kam, und dem sie Madeira und Kümmelkuchen serviert hat. Ist das lange her – die Zeit verfliegt. Dies ist mein erster Tagebucheintrag, und es kommt mir reichlich merkwürdig vor; als würde ich mit jemandem sprechen, den ich eben erst kennengelernt habe. Meine Nichte hat mir das Tagebuch geschenkt, als ich zu Weihnachten bei meinem Bruder und seiner Familie war. Es war wirklich nett von ihnen, mich einzuladen, und es war auf jeden Fall besser, als das Weihnachtsessen im Rushmere Hotel einzunehmen, zusammen mit all den anderen Gästen, die keine Familie haben, bei denen sie eingeladen wären. Trotzdem war es ein bisschen seltsam. Wie dem auch sei, ein neues Jahr beginnt, und ich werde das Beste daraus machen. Ich habe gute Vorsätze – ich will fröhlich sein, ich will an andere denken, die es weniger gut haben als ich, und ihnen helfen, so gut ich kann, und ich will alle Bücher des Neuen Testaments noch einmal lesen und mir Notizen dazu machen. Ich will dieses Tagebuch führen und interessante Eindrücke, Gespräche und Gedanken etc. darin festhalten. Ich muss mich beschäftigen, denn man weiß ja, was aller Laster Anfang ist! Also – zurück zum Bleeding Heart Square. Merkwürdiger Name. Ich habe Mr. Orburn gefragt, woher er kommt, aber er wusste es auch nicht. Noch zu erledigen: herausfinden, was der Name bedeutet. Es ist, als würdest du sie sprechen hören, als würde sie direkt neben dir stehen. Wenn es ganz schlimm ist, glaubst du sogar, ihr Parfum zu riechen. Du denkst ihre Gedanken, du träumst ihre Träume. Was für eine Vorstellung: Miss Philippa May Penhow ist nicht tot, sie schläft nur. Es war Dienstag, der 6. November 1934, um zehn nach drei. Lydia Langstone stand vor ihrer Haustür und kramte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Das Haus kauerte über ihr wie  eine schmutzige Hochzeitstorte. Ein böiger, nasskalter Wind schnappte nach ihren Knöcheln. In der Eile ließ sie den Schlüssel fallen, und als sie sich danach bückte, ertappte sie sich selbst bei einem dümmlichen Kichern. Blätter trieben über den Gehweg. Das Taxi fuhr an, und sie schaute ihm kurz hinterher. Die Eingangstür lag ein paar Meter über Gehwegshöhe und war von zwei weißen Säulen flankiert. Das, dachte sie, wird alles ins Lot bringen. Endlich. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und sie öffnete die Tür. Das Haus war still, in die Ruhe gehüllt, die zwischen Mittagessen und Tee herrscht, wenn das Personal für ein oder zwei Stunden unsichtbar wird und sich dem Geheimnis seines eigenen Lebens widmet. Marcus’ Hut lag auf der polierten Kommode am Fuß der Treppe. Dieses eine Mal freute sie sich, ihn zu sehen. Marcus hatte im Club zu Mittag gegessen und nichts darüber gesagt, wann er nach Hause kommen würde. Sie registrierte noch einen anderen Hut, einen, den sie nicht kannte, zog aber in ihrer Versunkenheit nicht den naheliegenden Schluss, dass sein Besitzer ebenfalls im Haus sein musste. Marcus würde oben in seinem Arbeitszimmer oder im Salon sein. Noch in Hut und Mantel ging Lydia ihn suchen. Sie rannte die Treppe hinauf, die viel zu groß und imposant für die Eingangshalle unten und den Flur oben war. Das ganze Haus war so – es versuchte, Eindruck zu schinden, und das auf Kosten von Gemütlichkeit und Komfort. Oben zögerte sie kurz und öffnete dann zunächst die Salontür. Der Raum war leer, es brannte kein Feuer. Sie eilte hinüber zum Arbeitszimmer und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Marcus saß in einem der Sessel vor dem Feuer, eine Zigarre in der Hand und ein Glas Whisky neben sich. Er schaute zu ihr auf, und sie blieb in der Tür stehen. Mit gerötetem Gesicht und aufgerissenen Augen starrte er sie an. Sein Gast erhob sich und wandte sich ihr zu. Er war schlank und dunkel, hatte einen kleinen Schnauzbart und das Gesicht eines entschlossenen Seehunds. Auch Marcus erhob sich, allerdings ohne Begeisterung, als folge er nur zögernd dem Diktat einer höheren Macht. „Ah, Lydia, meine Liebe“, sagte er mit der übertrieben klaren Artikulation der Angetrunkenen. „Ich glaube, du kennst Rex Fisher noch nicht.“ Er wandte sich an seinen Gast. „Rex, das ist meine Frau.“

©Goldmann©

Literaturangabe:

TAYLOR, ANDREW: Das tote Herz. Goldmann, München 2009. 480 S., 12 €.

Weblink:

Goldmann Verlag


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