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„Das vergessene 20. Jahrhundert“

Tony Judt wettert gegen Geschichtsvergessenheit

© Die Berliner Literaturkritik, 08.04.10

Von Johannes Wagemann

Lernen wir denn gar nichts aus der Geschichte? Dauernd beschwören Politiker, Manager, Publizisten „historische“ Momente oder Entscheidungen. Aber wissen sie überhaupt, wovon sie sprechen? Der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt hat da so seine Zweifel. Seine These: Es gelingt uns nicht einmal, aus dem 21. Jahrhundert auch nur ab und zu ins 20. zurückzublicken.

Leider sind Judts Essays in „Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen“ (Orig. „Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century“) nur Nachdrucke bereits in den USA erschienener Texte. Aber es hat sich gelohnt, dass Matthias Fienbork Judts geschliffenes Englisch in ein ebenso geschliffenes Deutsch übersetzt hat. Judt ist ein angelsächsischer Historiker im besten Sinn, denn seine Texte sind analytisch und anregend, bleiben zugleich aber anschaulich.

Eine Welt, die wir nicht mehr kennen

In vier Kapiteln sind ganz verschiedene Essays des 1948 geborenen Professors versammelt, viele davon eigentlich Rezensionen für die renommierte „New York Review Of Books“. Eine Rezension ist hier mehr als das: Er entführt uns in Welten, die uns die besprochenen Bücher womöglich nicht zeigen.

So gleich im ersten Stück über den aus Ungarn stammenden Arthur Koestler, der einer jener heimatlosen Intellektuellen war, die das Auseinanderbrechen Europas und sein Absinken in das Chaos der beiden Weltkriege ebenso miterlebte wie die ideologischen Verwerfungen des Kalten Kriegs, die Judt selbst in seiner exzellenten Geschichte Europas nach 1945 beschrieben hat. In solchen Intellektuellen erkennt Judt Menschen, die er heute vermisst: „Koestler war ein unbequemer Zeitgenosse, der stets für Kontroversen sorgte. Das freilich ist die Aufgabe von Intellektuellen.“

Auch manches vom Menschen Judt im Buch

Die Essays über Hannah Arendt, Albert Camus oder Eric J. Hobsbawm erzählen im Grunde auch manches über Judt selbst. Seine Ecken und Kanten mag auch er nicht verstecken. Vor allem seine Thesen zu Israel und der Israel-Lobby in den USA brachten ihm viel Ärger ein. In einem Aufsatz, auf den im vorliegenden Band nur verwiesen wird, hatte er 2003 für einen gemeinsamen Staat für Israelis und Palästinenser geworben.

In den zwei spannenden Israel-Aufsätzen in diesem Band geht Judt hart mit dem Land ins Gericht – und zwar nicht nur als Historiker und Intellektueller. Er verschweigt nicht, dass er 1967 selbst als Freiwilliger in den Krieg zog. Doch heute sieht er das Land sehr kritisch – und der deutsche Leser schluckt bei Sätzen wie: „Im Gegensatz zur ganzen Welt hat Israel sich nicht verändert. Sein Selbstverständnis (...) überzeugt das Ausland nicht mehr. Selbst der Holocaust kann nicht mehr als Entschuldigung herhalten.“

D
ie Vergangenheit in der Gegenwart

Judt prangert an und führt uns gerade durch das Alter der Essays vor Augen, wie viel Vergangenheit in der Gegenwart präsent ist und wie wichtig es ist, das zu erkennen. Dazu gehört freilich nicht der eher unsinnige Wiederabdruck einer 14 Jahre alten Rezension über den damals noch lebenden Johannes Paul II., fast fünf Jahre nach dessen Tod. Das Stück hätte einer Überarbeitung bedurft.

Dafür spiegelt sich das umso mehr im Epilog – auch wenn hier einige Stellen nicht mehr aktuell sind, zieht er ein Fazit zu einem der wichtigsten Probleme des 20. Jahrhunderts, der „sozialen Frage“. Wie viel Staat braucht es, um sie zu lösen? Judt nimmt die Diskussion vorweg, die in der Wirtschaftskrise bewegte: er plädiert für einen starken Staat. Und der schlanke wurde schließlich ad acta gelegt, als es um die Rettung der Banken und um Konjunkturprogramme ging.

 

Literaturangabe:

JUDT, TONY: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 2010. 480 S., 27,90 €.

 

Weblink: Hanser Verlag

 

 


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