Léa Cohen (Foto ©: Paul Zsolnay Verlag 2010)
Literaturangabe:
Cohen, Léa: Das Calderon Imperium
Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010. 382 S., 21,50 €.
Von Behrang Samsami
„Das Vermögen der Calderons ist dank des ALTERNUS-Konsortiums unangetastet geblieben. Der alte Calderon hat diesen Namen nicht zufällig gewählt. Alternus heißt der Wandelbare, der Ungreifbare. Nur ein Vermögensverwalter mit diesen Eigenschaften konnte das gewaltige Erbe über die Zeiten retten. Der alte Calderon verteilte diese Aufgabe auf vier Schultern, indem er vier Vollmachten ausfertigen ließ. Jeder der vier Bevollmächtigten bekam das Recht, eine Geldsumme bis zu einer Million Dollar abzuheben. Mit diesem Geldbetrag wollte Jules Calderon jene vier Personen entschädigen, die den Fortbestand seines Imperiums sicherten. An das gesamte Vermögen von ALTERNUS jedoch kommt man nur heran, wenn man alle vier Vollmachten vorlegt.“
Der Klappentext des Buches spricht von einem „schier unglaublichen, aber authentischen Enteignungsversuch“, von dem Léa Cohens erstmals 2005 in Bulgarien erschienener Roman „Consortium Alternus” handle. Dabei ist ihr neues Werk, das seit Kurzem unter dem Titel „Das Calderon Imperium“ auch auf Deutsch erhältlich ist, sehr viel mehr als nur ein äußerst spannend beschriebener Thriller über die Suche nach dem Vermögen des wohlhabenden jüdischen Unternehmers Jules Calderon: Dieser sieht sich im Jahre 1943 gezwungen, sein Geld vor dem Zugriff der mit den Nazis kollaborierenden bulgarischen Regierung zu schützen. Dadurch, dass er seine Besitztümer einem anonymen Konsortium überlässt, macht er es nach dem Krieg auch den kommunistischen Machthabern unmöglich, das nunmehr ausländische Kapital zu verstaatlichen. Damit beginnt für die neue Regierung in Sofia ein langjähriger und äußerst mühsamer Versuch, an alle vier Vollmachten zu gelangen.
Doch im Mittelpunkt von Léa Cohens „Calderon Imperium“ steht in erster Linie nicht die Suche des Geheimdienstes, sondern die der Erben des nach der Überschreibung durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen Calderon. Dabei ist es jedoch erst den Erben der zweiten Generation, Eva , Lora, Lisa und Viktor, wirklich möglich – und zwar nach dem Zusammenbruch des Ostblocks – auf eine intensive Suche zu gehen. Sie sind die Hauptfiguren und mit ihren Namen wird jeweils auch ein Kapitel des Romans betitelt. Entweder Enkel von Jules Calderon oder Kinder seiner Mitarbeiter sind sie allesamt in den 1930er Jahren geboren. Nach dem Krieg schlagen die vier allerdings sehr unterschiedliche Lebenswege ein. Ihr Werdegang spiegelt, betrachtet man die Sache genauer, freilich auch die Entwicklung Bulgariens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider: Eva studiert Psychologie und geht in Sofia in die Praxis. Lora wandert als Jugendliche mit ihrer Familie nach Israel aus und heiratet dort. Lisa wird Klavierspielerin und kehrt von einer Konzertreise nicht mehr hinter den Eisernen Vorhang zurück. Viktor, etwas älter als die drei einstigen engen Freundinnen, wird Übersetzer und arbeitet für den bulgarischen Geheimdienst.
Zu Beginn des Romans scheint die Sachlage noch übersichtlich: Onkel Alexej, ein Exilrusse und früherer Freund von Evas Vaters, der der Anwalt Jules Calderons war, nimmt nach der Wende 1989/90 Kontakt mit ihr auf und erzählt ihr erstmals von ihrem Erbe. Diese macht sich auf die Spuren der beiden anderen, findet schließlich ihre alten Freundinnen und setzt sie von ihrem großen Erbe in Kenntnis. Viktor, der zu unterschiedlichen Zeiten jede der drei Frauen in Sofia kennen gelernt hat, hält sich nach dem Zusammenfall des kommunistischen Regimes in den USA auf und nutzt seine frühere Spionagetätigkeit, um seinerseits an die restlichen Vollmachten zu gelangen.
Je weiter der Roman dabei voranschreitet, desto mehr zeigt sich, auf wie kunstvolle Weise Léa Cohen die Biografien der vier Hauptfiguren miteinander verknüpft. Jedes Kapitel bringt mehr Licht in das Leben der vier Protagonisten und macht auch deutlich, dass sie teilweise schon früh über die Zusammenhänge Bescheid wissen, die sich dem Leser erst im Verlauf der Handlung offenbaren. Andererseits wird man auch gewahr, wie verschachtelt die Schriftstellerin ihren Roman konzipiert hat, in welchen sie offensichtlich – betrachtet man ihre eigene Vita – scheinbar auch viel autobiografisches Material hat einfließen lassen.
Schnell wird während der Lektüre deutlich, dass „Das Calderon Imperium“ nicht nur ein spannendes, wenn auch hierzulande wenig bekanntes Ereignis thematisiert, sondern auch ein gut geschriebener Krimi ist, der den Leser schon gleich zu Beginn zum Detektiv werden lässt und auf die Spuren zweier vertrackter Fälle führt – der des unangreifbaren Geldes und der der Personenkonstellation im Roman. Léa Cohen gelingt es auf anschauliche Art, die moderne Geschichte Bulgariens anhand des Lebens dreier Generationen zu erzählen – der des alten Calderon, der seines Sohnes Robert und seiner Freunde, die zusammen wiederum die Eltern der vier Protagonisten sind: So geht es um die politischen Verhältnisse im zaristischen Bulgarien und um die antijüdischen Gesetze im Zweiten Weltkrieg, um die Machtübernahme der Kommunisten 1944 und deren Folgen für die Bourgeoisie, um die Emigration der jüdischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit und das Leben der Menschen in einem Überwachungsstaat, um die Zeit des Kalten Krieges auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs und schließlich um den Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten in Mittel- und Osteuropa.
„Das Calderon Imperium“ sei all denen empfohlen, die sich für einen Thriller begeistern können, der auf unterhaltsame Weise einen Kriminalfall mit unterschiedlichen menschlichen Schicksalen und zahlreichen politischen Ereignissen Bulgariens im 20. Jahrhunderts zu verbinden weiß. Léa Cohens Roman fesselt den Leser von Anfang an und macht ihn neugierig zu erfahren, wie die Suche nach dem verlorenen Schatz des Jules Calderon schließlich ausgehen wird. So erreicht ihr neues Buch, was man sich nicht nur von solchen „Geschichtskrimis“ wünscht: Es lässt einen bis zum Ende nicht mehr los.
Literaturangabe:
Léa Cohen: Das Calderon Imperium. Aus dem Bulgarischen von Thomas Frahm. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010. 382 S., 21,50 €.
Weblink: