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„Das wilde Kind“ von T.C. Boyle

Was ist der Mensch? fragt sich Boyle in seinem neuen Werk

© Die Berliner Literaturkritik, 09.02.10

Von Thomas Hummitzsch

Wie viel Zivilisation steckt im Menschen? Oder: Wie viel Kultivierung bedarf der zivilisierte Mensch? Diesen grundlegenden Fragen nach dem Wesen des Menschlichen bilden die geistig-moralische Grundlage der aktuellen Kurzgeschichte von T.C. Boyle. Der Text ist seinem ebenfalls kürzlich erschienenen Erzählband „Wild child: And Other Stories“ entnommen und nun auf Deutsch erhältlich. „Das wilde Kind“ ist die mythisierte Geschichte des Wolfskinds Victor von Aveyron, einem einsam in den Wäldern Südfrankreichs aufgewachsenem Kind, das man 1797 entdeckt und aufgegriffen hatte. Natürlich reichert Boyle diesen Fall künstlich an, schmückt ihn kreativ aus – schließlich besteht darin seine Kunstfertigkeit, für die er verehrt, zuweilen sogar vergöttert wird.

Zuletzt bewies er diese Gabe in seinem Roman „Die Frauen“ über das Leben des amerikanischen Stararchitekten Frank Lloyd Wright, das er in irrwitziger Manier mythisch überhöhte. Das Ergebnis war die Erzählung vom Leben eines egomanischen Dandys. Davor waren auch schon der amerikanische Sexpapst Dr. Kinsey und der Cornflakes-Mogul John Harvey Kellogs Subjekte seiner kongenialen biografischen Romane. Wollte Boyle bei Wright, Kinsey und Kellog stets vom Offensichtlichen ablenken und den Blick auf das Verborgene lenken, scheint er mit „Das wilde Kind“ das Gegenteil zu beabsichtigen. Der Leser soll dem Offensichtlichen ins Auge schauen, da die Umwelt Victor von Aveyrons dazu nicht bereit war. Victor von Aveyron wurde Ende des 18. Jahrhunderts in Südfrankreich entdeckt, nackt und auf einem Baum sitzend. Ein Wettlauf um die Zivilisierung des Jungen beginnt.

Es bedurfte zahlreicher Anläufe, dem scheuen und mit tierischen Instinkten ausgestatteten Jungen habhaft zu werden. Schließlich konnte ihn der Naturforscher Pierre Joseph Bonnaterre untersuchen, der feststellte, dass „das wilde Kind“ nicht nur nicht sprechen konnte, sondern dass er sein Gehör auch so sehr seiner Umwelt angepasst hatte, dass er nur auf natürliche Geräusche reagierte. Vom Menschen verursachte Geräusche nahm er nicht wahr. Außerdem zeigt er sich gegenüber Temperaturunterschieden unempfindlich. Moralische Grenzen oder Anstandsregeln waren dem Kind völlig fremd.

In einer Pariser Anstalt für taubstumme Kinder kümmerte sich dann der junge Arzt Jean Itard um den wilden Jungen. Mit quasi religiösem Ehrgeiz versuchte er ihn zu zivilisieren, denn der Glaube, der Mensch sei an sich zivilisiert und kultiviert, unterscheide sich gerade darin vom Tier, war Ende des 18. Jahrhunderts noch tief verankert gewesen. Von Darwins Erkenntnissen war noch nicht viel zu erahnen, der Einfluss der Kirche durch die französische Revolution keineswegs hinweggefegt. Die vorherrschende christliche Moral ließ für Wesen wie Victor von Aveyron, nur eine Erklärung zu: Idiotie, Schwachsinn, Teufelsbesessenheit. Diesem galt es, Zivilisiertheit entgegenzusetzen – mit aller Gewalt. So ist Boyles Erzählung auch eine Geschichte der menschlichen Grausamkeit angesichts eine Kindes, das nicht kultiviert und in einer Welt mit künstlichen Mythen und künstlichen Idealen aufgewachsen ist. Victor ist anders – und darf es nicht bleiben. Er wird das Opfer zahlreicher und lang andauernder „Umerziehungsversuche“ seiner Lehrer, die einen Menschen nach ihren Vorstellungen aus ihm machen wollen. Dass er bei aller animalischen Identifikation das menschlichste Wesen der Erzählung ist, ist geradezu anrührend und zugleich die bittere Ironie der Geschichte.

Dennoch stimmt etwas nicht bei der Lektüre dieses knapp 100 Seiten dünnen Textes. Vergeblich wartet man auf den Boyle’schen Aufwärtshaken; auf den Moment, in dem wenn seinen scharfsinnigen Analysen die bissige Ironie und der lästerhafte Ton folgen, für die der Wahlkalifornier so berühmtberüchtigt ist. Zwar ist die Erzählung wie so oft in dem sachlichen Ton eines Geschichtsschreibers verfasst, doch ordnete Boyle diesem Berichterstatterduktus scheinbar seine Bissigkeit unter – wohl um die Grausamkeit dieser absurden Normalität um 1800 deutlich zu machen. Auch den Leser erschreckt dies, er leidet angesichts der erbarmungslosen Indoktrinierung mit dem Jungen mit und stellt sich zugleich hinter diejenigen, die sich Victor nachsichtig und rücksichtsvoll zuwenden.

Dem Leser gelingt es während der Lektüre jedoch nicht, sich über das Sujet zu erheben und die bitterbösen Gemeinheiten der Welt unabhängig von dieser fast wehrlosen Kreatur zu beobachten und zu belächeln. Boyle selbst ist es auch nicht gelungen. Mit Victor von Aveyron hat er sich einen Protagonisten gewählt, der zu schwach und hilflos ist, um Boyles Sarkasmus standzuhalten. Boyle braucht Charaktere, die ihm etwas entgegenzusetzen haben, die seine Aufwärtshaken aushalten können, ja meist sogar verdient haben (man denke bspw. an seinen Immigrantenroman „América“). Dies ist bei Victor von Aveyron nicht der Fall und somit scheitert Boyles gewohntes und zu erwartendes Konzept. Dies führt dazu, dass die gesamte Erzählung von einem mitleidigen Subtext begleitet wird, doch ist Mitleid nun mal Boyles Stärke nicht. Seine Genialität besteht eben darin zu zeigen, dass die Welt schonungslos gemein ist und ein jeder Teil dieser Welt ist und seinen Anteil daran hat.

„Das wilde Kind“ ist alles andere als eine schlechte Geschichte, ganz im Gegenteil, es ist sogar eine richtig gute Erzählung, die es versteht, den Leser in das Frankreich des 19. Jahrhunderts zu entführen. Aber es ist eben keine Boyle’sche Story. Boyles letzter Erzählungsband hieß noch „Zähne und Klauen“, dieser Geschichte fehlen selbige aber fast völlig.

 

Literaturangabe:

T.C. Boyle. Das wilde Kind. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser-Verlag, München 2010. 106 S., 12,90 €. 

Weblink:

Hanser Verlag

 

 


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