MÜNCHEN(BLK) – Im Februar 2010 erschien bei Hanser der Roman „Das zerbrechliche Leben“ von Robert Asbacka.
Klappentext: Seit seine Frau Siri vor zwölf Jahren bei einem Schiffsunglück starb, stellen sich Thomasson viele Fragen. Wäre alles anders gekommen, wenn er sie damals nicht betrogen hätte? Oder er auf jenem Schiff nach Schweden mitgefahren wäre? Über seinen Schuldgefühlen hat er den Umgang mit anderen Menschen fast verlernt. Bis der Eigenbrötler eines Tages einem kleinen Jungen hilft, der von Gleichaltrigen schikaniert wird. Endlich tritt der alte Mann wieder in Kontakt mit der Welt und findet noch einmal ins Leben zurück. Robert Asbacka hat einen warmherzigen Roman geschrieben, der von der Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz, der Liebe und dem Alter handelt. Ein Buch, das den großen existenziellen Fragen am Ende des Lebens nachspürt.
Robert Asbacka, 1961 in Finnland geboren, lebt in Schweden. Er hat in den achtziger Jahren selbst auf der Estonia gearbeitet. Das zerbrechliche Leben ist seine erste Veröffentlichung auf Deutsch und wurde für den Nordischen Literaturpreis 2009 nominiert. (ton)
Leseprobe:
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Er war ungefähr den halben Weg durch den Park gekommen, als der erste Schrei ertönte. Ein böser, schriller Schrei, und dann eine abrupte Stille. Er blieb stehen und horchte. Es war nichts anderes zu hören als ein Auto, das oben auf der Esplanade entlangfuhr, und das Wasser, das unter der Kraftwerksbrücke hindurchrauschte. Aber dann kam er wieder. Und jetzt hörte er, dass es gar kein Schrei war, sondern ein Lachen, und dass auf dieses Lachen andere folgten.
Sie waren aufeinander abgestimmt wie die Bausteine eines Chorwerks. Die Geräusche kamen unten vom Fluss her. Vom Kiesweg aus konnte er nichts sehen. Seit der Damm umgebaut worden war, brauchte man sehr viel länger vom Park hinunter zum Ufer. Früher, vor langer Zeit, führte eine Treppe hinunter zu einer Brücke, wo die Frauen der Stadt ihre Teppiche zu waschen pflegten. Die Waschbrettbrücke. Jetzt sind Treppe wie Brücke verschwunden. Die Teppiche sollen angeblich heute weiter unten am Meer gewaschen werden, wo die Stadt, oder wer auch immer, zwischen den Wellenbrechern und den Reihen großer Glasfaserboote eine neue Brücke gebaut hat. Er dachte, die Jungen wären vielleicht beim Baden, und deshalb würden sie so lachen. Obwohl es spät im Jahr war, und auf diesem Breitengrad wurde selten nach dem August gebadet. Aber sie konnten ja sonst was tun, angeln oder ein Ruderboot mit Steinen füllen. Es braucht nicht so viel, um Jungen zum Lachen zu bringen.
Er setzte sich erneut in Bewegung, aber nachdem er nur wenige Schritte getan hatte, hörte er es wieder. Und jetzt war es ganz deutlich ein Schrei, und auf den Schrei folgte ein Lachen. Er zögerte einen Augenblick. Er war zu alt. Er sollte sich nicht einmischen. Trotzdem wusste er, dass er es nicht lassen konnte. Um seiner Glückseligkeit willen. Er hatte schon allzu viele Male weggesehen. Und wie man es auch drehte und wendete, so war es doch wirklich wahr, was er morgens zu Maja gesagt hatte. Bald würde es Zeit sein, Bilanz zu ziehen. Keiner kennt den Tag und auch nicht die Stunde. Oder wie es nun hieß. Siri hätte es wortwörtlich gewusst.
Das erschreckte ihn nicht. Ihm kam eine Textzeile in den Sinn, nicht aus einem Buch, sondern aus einem Musikstück. Auch zu dieser Zeile hatte er unter Siris Anleitung gefunden. Ich habe Lust abzuscheiden. Wie ich mich danach sehne, aufzubrechen. Der Brief des Paulus an die Philipper, Vers 23. In Thomassons Kopf erklangen die Worte in Buxtehudes Version. Dietrich Orgelmeister. Der Größte vor Bach. So heißt es allgemein. Aber für Thomasson war er der Größte sowohl vor als auch nach Bach. Im Herbst 1705 war Bach zu Fuß von Arnstadt nach Lübeck gewandert, um Buxtehude spielen zu hören. Sechshundert Kilometer auf unsicheren Wegen. Er hatte vorgehabt, etwa eine Woche zu bleiben, daraus wurden Monate.
Ein Mythos, pflegte Siri zu sagen. Davon gibt es jede Menge. Dass aber Bach von Buxtehude gelernt hatte, das leugnete sie nie. Er war gut, sagte sie, aber kein Genie, hat sich nie richtig in die Riemen gelegt. Gut in allem, aber nicht der Beste in etwas. Ein Mittelmäßiger unter den Giganten. Dietrich Buxtehude weilte über dem Kampfgetümmel, jenseits der großen Gesten. Das war, wie Thomasson es sah, größer als alle Genialität der Welt. Zwei Soprane und ein Bass. Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.
Also wich er vom Kiesweg ab und begann sich langsam den Hang hinunterzutasten, entlang der Treppe, die es nicht mehr gab. Er ging vorsichtig, die Seite voran, und suchte mit dem linken Fuß Halt, während er sich gleichzeitig an den Büschen festhielt, die dort wuchsen, wo sich einmal das Geländer befunden hatte. Das Lachen und die Stimmen waren jetzt deutlicher zu hören. Unten am Wasser tauchte undeutlich eine Schar von Jungen auf, aber er traute sich nicht, genauer hinzusehen, aus Angst, einen Fehltritt zu tun und das letzte Stück hinunterzufallen.
Es gelang ihm, ohne Missgeschick hinunterzugelangen, und als er schließlich unten ankam, waren die Jungen verstummt. Sie standen da und schauten ihn an, wussten wohl nicht, wer er war. Die Stadt ist klein, ein Ort, an dem jeder jeden kennt, aber wie klein ein Ort auch ist, alte Männer können doch mehr oder weniger unbemerkt kommen und gehen, da der eine dem anderen so verwirrend ähnlich sieht. Es ist nicht einmal sicher, ob die Eltern der Jungen oder ihre Großeltern hätten sagen können, wer Thomasson war. Dabei hatte er seit den fünfziger Jahren in der Stadt gewohnt. Manch einer erinnerte sich vielleicht noch an ihn aus der Zeit, als er einen Kaufladen in der Bankgatan hatte. Aber die, welche sich erinnern, werden immer weniger. Nachdem er erst alles verrammelt und auf den Fähren zu arbeiten begonnen hatte, hatten sicher viele geglaubt, er sei weggezogen. Aufgebrochen und für immer verschwunden. Es war, als hätte er die Tür zur Stadt selbst zugemacht, als er den Laden geschlossen hatte und weggegangen war. In seiner Freizeit saß er meist zu Hause, schaute auf den Fluss hinaus, machte seine Spaziergänge mit Siri, manchmal kam es vor, dass er ins Restaurant in der Nachbarschaft ging, um ein paar Biere zu trinken. Aber das kam selten vor, und später hörte er ja ganz damit auf.
Es waren vier Jungen am Ufer. Ein fünfter stand draußen im Wasser. Er trug einen kurzärmeligen Pullover und Jeans, und das Wasser reichte ihm ein Stück weit die Oberschenkel hinauf. Er stand da, die Arme vor der Brust gekreuzt. Er fror. Sogar von der alten Treppe aus meinte Thomasson zu sehen, wie die Gänsehaut sich entlang der streichholzdünnen Arme bis hinauf zum Hals erstreckte, der langsam einen dunkelblauen Ton annahm. Auch die Haare schienen nass zu sein.
Was er sah, war ein Junge, der bis zu den Oberschenkeln im Wasser stand und fror, während vier andere mit Stöcken am trockenen Ufer standen. Wer so etwas sieht, weiß, worum es geht. Trotzdem fragte er:
„Was geht hier vor?“
Eine Altmännerstimme, lange ungebraucht, eine Stimme, die ihre Schärfe verloren hatte. Er konnte das Resultat sofort an ihren Gesichtern ablesen. Respekt, oder wenn man aussprechen soll, was wir uns eigentlich erhoffen, nämlich Angst, war überhaupt nicht zu sehen. Nur Neugier, Verwunderung, vielleicht Erwartung: Was will der Alte? Thomasson tat einige vorsichtige Schritte zum Flussufer hinunter. Kies und Steine rasselten unter seinen Füßen. Der Junge da draußen blieb stehen, ohne sich zu rühren. Das Wasser strömte an ihm vorbei, schlug in kleinen Wellen gegen seine Schenkel und floss weiter zum Meer hinaus. In der Luft lag ein Geruch von lebenden Fischen, wie man ihn an den Händen bekommt, wenn man einen frisch gefangenen Barsch ausgenommen hat. Es ist ein Geruch, der rasch verfliegt, bei dem Fisch, der auf dem Markt verkauft wird, lässt er sich nur erahnen. Thomasson schaute zwischen den Steinen am Ufer nach, um zu sehen, ob dort ein Fisch lag. Aber da war nichts, da waren nur die Steine und dann das beinahe schwarze Wasser, das sich im Herbstwind kräuselte. Das Herbstwasser an einem bewölkten Tag war tiefschwarz, nicht kohlrabenschwarz. Wie unbearbeitetes Eisen. Am Boden musste es rutschig sein. Mit Algen bedeckte Steine. Aber der Junge schien sicher zu stehen.
„Komm hier heraus.“
Er fand, es hätte sich ein wenig Schärfe in seine Stimme geschlichen, als hätte sie zu der Tonlage zurückgefunden, die er oft hatte anwenden müssen, wenn er wollte, dass seine Lagerburschen unverzüglich und ohne unnötige Proteste die Arbeit ausführten, für deren Ausführung sie angestellt waren.
Also ist es möglich, dass sie noch in ihm war, die Chefstimme, denn auch dieser Junge setzte sich in Bewegung, ließ den Griff um sich selbst los und begann langsam auf das Ufer zuzugehen, vorsichtig wie ein Balancekünstler, mit ausgebreiteten Armen auf dem steinigen Boden. Der eine der Jungen, mit grünem Kapuzenpulli und herunterhängenden Hosen, warf den Stock weg und begann wegzugehen, während er etwas zu den anderen sagte. Thomasson meinte, es klinge wie „wir hauen ab“. Aber es kann auch etwas anderes gewesen sein, wir hauen ab sagte man vor dreißig, vierzig Jahren. Aber die Bedeutung schien jedenfalls dieselbe gewesen zu sein, denn auch die anderen Jungen warfen ihre Stöcke weg und begannen langsam den Hang zum Park hinaufzugehen. Und er konnte es nicht lassen.
„Hört mal“, rief er ihnen nach, „was hat das zu bedeuten? Warum habt ihr euren Kameraden ins Wasser hinausgejagt!“
Sie drehten sich um, ohne stehenzubleiben, gingen weiter rückwärts den Hang hinauf, während der Junge mit dem Kapuzenpulli sagte, sie hätten überhaupt niemanden gejagt, aber Balderson – anscheinend der Junge im Wasser – hätte baden wollen, aber sich nicht richtig getraut, und deshalb hätten sie ihm ein bisschen geholfen.
Die anderen kicherten und schauten einander an. Diese Jungen mochten im Alter von elf, zwölf sein. Sie waren noch nicht in den Stimmbruch gekommen. Jedenfalls nicht der, der gerade etwas gesagt hatte. Die anderen wohl auch kaum, dem Gekicher nach zu urteilen. Sie waren wie ein Haufen, ein veränderbarer Körper, der sowohl spielerisch wie bedrohlich sein konnte. Jetzt kicherten sie, und wenn vorpubertäre Jungen kichern, bedeutet das, dass jemand in der Nähe, Tier oder Mensch, leidet.
Thomasson war ein Mann, der auf die Achtzig zuging, und was er sich eigentlich dabei dachte, als er sich entschloss, den Jungen den Hang hinauf zu folgen, ist schwer zu sagen. Vielleicht war es einfach der Instinkt, welcher die Oberhand gewann, wie wenn ein noch so folgsamer Hund einen Hasen auf offenem Feld entdeckt, anfängt zu jagen, den Ruf des Herrchens erst hört, wenn er Geschwindigkeit aufgenommen hat und nicht mehr stoppen kann. Er ist dann in den Einbahntunnel geraten. Und vielleicht war das genau der Tunnel, in dem Thomasson sich jetzt befand, als er über Grasbüschel stieg, über alten Bodenschlamm trampelte und auf rundgeschliffenen Steinen Halt für die Füße suchte, während die Jungen umkehrten und die letzten Meter zum Kiesweg hinauf Tempo gewannen und verschwanden.
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Literaturangabe:
ASBACKER, ROBERT: Das zerbrechliche Leben. Hanser Verlag, München 2010. 320 S., 19,90 €.
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