STUTTGART (BLK) – Im Februar 2011 hat der Tropen Verlag den neuen Gesellschaftsroman „Chronic City“ von Jonathan Lethem herausgebracht. Das Buch wurde von Christoph Maass und Michael Zöllner aus dem Amerikanischen übersetzt.
Klappentext: Mit seinem großen Gesellschaftsroman über die eisige Welt des Geldes und des schönen Scheins, der Dinnerpartys und der Charity-Events zeichnet Jonathan Lethem das eindrucksvolle Porträt eines dekadenten Manhattans, dessen Einwohner gefangen sind in Medienmanipulationen und politischen Betrügereien.
Jonathan Lethem wurde 1964 in New York geboren. Nachdem er einige Semester in Vermont studiert hatte, begann er in den 80iger Jahren mit dem Schreiben. Bisher hat Lethem mehrere Kurzgeschichten und sieben Romane veröffentlicht, darunter die New-York-Romane „Motherless Brooklyn“ und „Die Festung der Einsamkeit“. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen wie z.B. den „National Book Critic‘s Award“, den „Gold Dagger“ und das „Mac-Arthur Fellowship“. Seit kurzem unterrichtet er als Nachfolger von David Foster Wallace Creative Writing am Pomona College.
Leseprobe:
©Tropen Verlag©
Perkus Tooth las die New York Times, während er mit der Linie F in Richtung Downtown fuhr. Er hatte das Exemplar von der Türschwelle eines Nachbarn mitgehen lassen – zu dieser unchristlichen Zeit fühlte er sich dazu berechtigt. Seit dem Tag, als Richard Abneg angerufen und darauf bestanden hatte, er solle das über die Adler lesen, hatte er keines mehr gekauft, und davor viele Monate lang nicht. Perkus lehnte es ab, für die Times zu bezahlen, er hatte kein Interesse daran, die Hegemonie zu subventionieren. Die Zeitung war für ihn nahezu nutzlos geworden. Früher hatte er Feuer gefangen bei Details, die ihn ansprachen, Teilen eines größeren Puzzles. Diese hatte er ausgeschnitten und in einen anderen Zusammenhang zu bringen versucht, indem er sie über dem Küchentisch auf den geschichteten Hintergrund seiner eigenen Straßenplakate pinnte, um zu sehen, was die Zeit ihrer Bedeutung anhaben würde, während sie vergilbten, während Kochdünste sie marinierten. In letzter Zeit war so etwas nicht mehr vorgekommen. Die Titelseite schien rekursiv, jede Meldung drehte sich entweder um das Aussterben einer Tierart oder die Aufteilung der Matisse-Sammlung irgendeines Salonlöwen, der ohne Testament verstorben war. Gestern war ein Zwergwal, in seiner Orientierung möglicherweise durch marine Pilze gestört, den East River fast bis Hell Gate hochgeschwommen: HERUMTOLLENDER BESUCHER ERFREUT HERZEN UND STIRBT DANN. Eine andere Tiergeschichte, die es auf die Titelseite geschafft hatte, befasste sich mit den jüngsten Verheerungen des entlaufenen Tigers, der einen koreanischen 24-Stunden-Laden in der 103rd Street vollkommen zerstört hatte.
Dann gab es den unvermeidlichen Lagebericht aus dem All, eine weitere Folge über die Mühen von Janice Trumbull und ihrer russischen Kohorte. Der Artikel über die Raumstation nahm ein Drittel der ersten Seite ein, und im Innenteil, wo er fortgesetzt wurde, hatte die Times beträchtliche Auszüge aus Janice Trumbulls letztem Brief an Chase Insteadman gebracht. Eine Seifenoper. Perkus hielt sich mit einem Urteil über die Situation seines neuen Freundes zurück, leuchtete sie mit seinen üblichen konspirativen Suchscheinwerfern bloß aus. Dass hier alles nach Täuschung roch, war nur natürlich – was tat das heutzutage nicht? Auch Oona Laszlo hatte ein paar Bemerkungen fallen lassen, obwohl sie Perkus häufig wegen seiner schweren Paranoia aufzog und im Grunde genommen nicht vertrauenswürdig war. Als er Chase’ Bekanntschaft machte, hatte Perkus eindringlich darauf hingewiesen, dass er nicht nur wisse, sondern auch verstehe und vergebe – denn wer hätte sich nicht von Zeit zu Zeit in den vorherrschenden Fiktionen dieser Stadt wiedergefunden? Doch Chase schien vollkommen aufrichtig und untröstlich zu sein, klammerte sich genauso an die Lageberichte aus dem All wie jeder andere Leser auch. Er tat Perkus leid. Andererseits jedoch erschien ihm die ganze New York Times erschwindelt, selbst oder vielleicht besonders dann, wenn seine Freunde darin auftauchten. Er sah den Lokalteil durch, aber es gab keine Neuigkeiten von Abnegs Adlern. Das Feuilleton war natürlich unbrauchbar. Perkus kannte keinen der Namen. Es schien ihm größtenteils aus umformulierten Pressemitteilungen zu bestehen. Und doch vermittelte diese Zeitung als Ganzes einen noch substanzloseren Eindruck als gewöhnlich – wo waren all die Artikel, die nie jemand las, auf deren Existenz sich aber jeder verließ? Er warf einen Blick auf die Vorderseite, die rechte obere Ecke: KRIEGSFREIE AUSGABE. Ach ja, er hatte davon gehört. Eigentlich konnte man sich das Lesen ab sofort sparen. Er ließ die Zeitung auf dem Sitz liegen, als er an der 23 rd Street den Zug verließ.
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Wieder an der Oberfläche lief er auf der Sixth Avenue in Richtung Norden. Weiter war Perkus seit Monaten nicht gefahren, vielleicht seit über einem Jahr nicht. Wie absurd auch immer es war, er konnte sich nicht daran erinnern, was genau ihn zuletzt über die Grenzen seines Sperrgebiets – östlich der Lexington, nördlich der Grand Central Station – gelockt hatte. Sogar das östliche Midtown, wo er gelegentlich in den Büros des Rolling Stone oder denen von Criterion vorbeischaute, verwirrte Perkus; der Teil Manhattans, dem er hier begegnete, mit den nachhallenden Echos eines älteren, ethnisch-merkantilen Reiches und der vermögenden und lebenslustigen schwulen Enklave, die die Geister des Garment District überlagerte, die selbstgefälligen, fitnesssüchtigen Paare, die Händchen hielten, während sie spazierengingen – all das kam ihm vor wie eine andere Stadt. In seinem Unbehagen scherzend, sagte Perkus sich, dass er das nächste Mal einen Reiseführer mitnehmen sollte, er fühlte sich hier so fremd.
©Tropen Verlag©
Literaturangabe:
LETHEM, JONATHAN: Chronic City. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner. Tropen Verlag, Stuttgart 2011. 495 S., 24,95 €.
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