Von Marco Gerhards
Manchmal mit sieben, manchmal vielleicht auch erst mit elf oder dreizehn Jahren hört es auf. Das mythische Verständnis vom Weihnachtsmann, vom guten Cowboy im Western und vom dunklen Mann unter dem Bett. So will es uns unsere innere Aufklärung jedenfalls weismachen. Das die Achillesferse aber mehr war und ist, als ein Teil einer fiktiven Kriegstragödie, sollte doch auch dem letzten Antipsychologen klar sein, oder nicht?
Sieben Jahre nachdem der Amerikaner Barry Powell ein grundlegendes Werk über die klassische Mythologie in englischer Sprache veröffentlicht hat, offeriert der Stuttgarter J.B.Metzler Verlag nun eine deutsche Übersetzung, wobei immerhin das Eingangszitat Bob Dylans in der englischen Originalsprache geblieben ist. „It's all new to me, like some mystery, it could even be a myth“ wird der Barde in einem seiner frühen Songs von 1964 zitiert und führt damit direkt in die Thematik des Werkes ein.
Definition und Theorie des Mythos, die Entstehung des solchen und die verschiedenen Themen der klassischen Antike sind die drei Hauptgebiete, die Powell seinen Leserinnen und Lesern ans Herz legen möchte. Dabei geht er streng wissenschaftlich vor, belegt alle seine Aussagen an Originalquellen oder mit Sekundärliteratur und bietet zudem im Anhang die genealogischen Tafeln des griechischen Götterwesen sowie geographische historische Karten der Hellenen. Vom grundlegenden Ansatz her also eine fundierte und solide Basis.
Darüber hinaus gelingt es Powell der wichtigsten Frage, was ein Mythos nämlich ist, und was er wohl nicht ist, auf die Schliche zu kommen. Der Mangel an Wahrheit, dem man ihm in der Gründungszeit der klassischen Wissenschaften in der Frühen Neuzeit vorgeworfen hat, widerlegt der Autor in diesem Buch eindrucksvoll. Ein Mythos ist im Sinne Homers vielmehr das Nicht-Vergessen und suggeriert die notwendige Kraft, die Mythen dem kollektiven Gedächtnis anbei geben. Zahlreiche Zitate von Sokrates, Platon oder Pindar belegen die eben gemachte Aussage, wiewohl sich die genannten Autoren der Unklarheit jenes Begriffes klar waren und ihn häufig im Gegensatz zum vernunftbegründeten Logos stellten.
Moderne Bedeutungstheorien der romantischen, der anthropologischen , der psychologischen oder der linguistischen Schulen der Frühmoderne sind Erklärungen, wie wir sie vielleicht auch schon mal in einem guten Sachbuch oder an der Universität gehört haben. Klar ist jedenfalls, dass es keine gottgegebene (sic!) Definition geben kann, und alle Ansätze Annäherungen und Vorschläge bleiben. Dies macht Powell mehr als deutlich, und das ist gut so.
Den größten Teil im Buch nehmen dann die bekannten Mythen an sich ein: Orpheus, Herakles, Perseus oder die Amazonen. Sie alle sind dem einen oder anderen in Schwabs berühmten Sagen begegnet, und ihre Idee, und somit ihr Mythos, dringt sicherlich auch so zu den Herzen und Hirnen der Interessierten. Das soziohistorische und psychologische Verständnis aber, welches diesen Geschichten zugrunde liegt, offenbart Powells Buch, was es dadurch zu einer wahren Schatzgrube für Detektive, Rechercheure oder Tiefblicker macht. Denn weniger die sagenhaften Gestalten, als grundlegende humane Bedürfnisse, Vorstellungen und Wahrnehmungsstrategien stecken hinter diesen Mythen, die es nicht nur im wissenschaftlichen Sinne zu durchleuchten und zu erfahren gilt.
Der Kernbestand der europäischen Literatur, die den griechischen und römischen Philosophen und Tragikern zugehört haben will, bildet die Grundlage unserer Kulturgeschichte. Ein differenzierter und vor allen Dingen sehr genauer Blick ist hilfreich für das persönliche und kollektive Verständnis und gelingt mit diesem Werk einwandfrei, wenn gleich auch die akademische Schreibe nicht für alle Gourmets ein Festessen darstellen dürfte.
Literaturangabe:
POWELL, BARRY B.: Einführung in die klassische Mythologie. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Reitz. J.B. Metzler Verlag, Stuttgart 2009, 236 S., 24,95 €.
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