Der Name Alfred Döblin ist jedem literarisch Interessierten ein Begriff, aber nur als Verfasser eines einzigen Romans, „Berlin Alexanderplatz“ (1929). Seine anderen Werke haben sich nicht in das Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit eingeprägt. Selbst späte Verpflichtungserklärungen wie die von Günter Grass, der Döblin seinen unmittelbaren Lehrer nannte, haben daran nichts geändert. In den 1920er/1930er Jahren ist der 1878 in Stettin geborene, aber bis zu seiner Emigration vorwiegend in Berlin lebende Döblin einer der bekanntesten und hochgeschätzten Autoren in Europa gewesen. Er war 1929 sogar als Kandidat für den Nobelpreis im Gespräch, den dann Thomas Mann erhielt.
Provinzialität kann wohl nicht der Grund für Döblins relative Wirkungslosigkeit sein. Bei dem weltläufigen Autor und dessen epochenüberspannenden Kraft ist gerade sein „provinziellstes“ Buch, eben „Berlin Alexanderplatz“, sein erfolgreichstes geworden. Eine mögliche Antwort wäre: Die außergewöhnliche Konzentration des Blicks auf seltsame Situationen und Existenzen, das Fixieren des Details behindert den erzählerischen Fluss. An dessen Stelle tritt das permanente Überspringen der quasi elektrischen Hochspannung von Partikel zu Partikel, also eine gleichbleibende Aufladung des gesamten Erzählraums. Die Erzählung, aller Höchstintensivierung ungeachtet, erstarrt, wird statisch.
Nun hat es aber doch in jüngster Zeit Aktivitäten gegeben, die Anlass sein könnten, von einer erneuten Döblin-Renaissance zu sprechen. Die internationale Döblin-Forschung ist schon seit langem äußerst rege, allein zwei Döblin-Biographien wurden in jüngster Zeit verlegt. Neben den Taschenbuchausgaben des Deutschen Taschenbuch Verlages ist im vergangenen Jahr im S. Fischer Verlag eine zehnbändige Leseausgabe der Romane Döblins erschienen. Und jetzt hat derselbe Verlag ein von Günter Grass besorgtes Döblin-Lesebuch herausgebracht, das so richtig zum Prüfen und Verweilen einlädt. Es geht hier nicht darum, mit entsprechend ausgewählten Texten den Autor „gefälliger“, lesewirksamer zu machen. Nach wie vor gilt der Satz von Grass über seinen Lehrer Döblin: „Er wird Sie beunruhigen, er wird Ihre Träume beschweren; Sie werden zu schlucken haben; er wird Ihnen nicht schmecken, unverdaulich ist er, auch unbekömmlich. Den Leser wird er ändern. Wer sich selbst genügt, sei vor Döblin gewarnt“.
Gerade das ist das große Plus dieses Bandes, dass er eben auch sperrige Texte nicht scheut, dass er aber ein so facettenreiches Bild von diesem Autor gibt, dass sich der bereitwillige Leser bald in ein erregendes Abenteuer verstrickt sieht, aus dem er sich nur mit Mühe wieder lösen kann. Dem Herausgeber Grass zur Seite steht der Literaturwissenschaftler Dieter Stolz bei der Auswahl und Zusammenstellung der Texte, die sowohl autobiographische Aufzeichnungen Döblins, Erzählungen, Auszüge aus Romanen und Erfahrungsberichte, Essays und kleine Schriften zu ästhetischen und politischen Fragen sowie Briefe aus fünf Jahrzehnten umfasst.
Wenden wir uns gleich der im Band vertretenen literarischen Prosa zu. Schon die Erzählsubstanz des ersten Erzählbandes Döblins, „Die Ermordung einer Butterblume“ (1913), hatte fasziniert. Das Alltägliche wird zum Außergewöhnlichen in Spannung gesetzt, zumal in der abgedruckten Titelgeschichte, in der es um den totalen psychischen Zusammenbruch eines gutsituierten, gutgekleideten Herrn im Zwang elementarer Mächte geht, eine moderne, mit den Mitteln der Psychiatrie operierende Variante von E.T.A. Hoffmanns Erzählungen und Büchners „Lenz“-Fragment. Eine ständige Stoffanreicherung, ein Auffüllen und Überladen der Erzählung mit Stoff war nötig, damit die Partikelstruktur seiner Texte sich in Bewegung verwandeln konnte. Jedes Stück Prosa ist nur Teil eines letztlich unvorstellbaren Ganzen, das sich nicht in ein Werk, auch nicht in einen Roman, umsetzen lässt.
Drei große, auch, ja gerade in ihrer Erfolglosigkeit, in ihrer sterilen Endgültigkeit große Romane, Epochenromane, zeigen dann die Richtungen an, die Döblin innerhalb des Expressionismus mit geradezu atemberaubender Vehemenz ausgeschritten hat. Der Roman „Die drei Sprünge des Wang-Lun“ (1915) reißt die eigene Zeit ins alte China hinein auf. Geschrieben unter dem erbarmungslosen Zwang der modernen Arbeitswelt, überträgt dieser Roman, aus dem ein charakteristischer Auszug gewählt wurde – wie alle Romanauszüge besser nicht gewählt werden konnten – den Typus des modernen Ekstatikers, der die Welt gewaltlos ändern möchte, aber in einem Meer von Blut versinkt, ins Vorzeitlich-Vorbildhafte. Der Roman „Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine“ (1918) projiziert die Rationalität der Technik bekennerisch ins Irrationale, ein utopischer Roman, der sich mit ohnmachtsgesättigter Riesenkraft ins Urtümlich-Epische verkehrt. Der Roman „Wallenstein“ (1920) öffnet das Grauen des Ersten Weltkrieges auf das Grauen des Dreißigjährigen Krieges hin. Die Beschreibung einer vergangenen Geschichtsstufe soll eigenes Leid auffangen, der Geschichtsroman wird zum Vexierbild der Gegenwart. Aber um 1920 war sich der Expressionismus selber bereits historisch geworden. Döblin gab seine alte Lieblingsidee der „Massenhaftigkeit“ zugunsten einer Priorität des einzelnen Ichs auf. Diese Wendung führte zum Verzicht auf den „steinernen“ Stil seiner früheren Romane.
In „Berlin Alexanderplatz“ – mit Auszügen aus dem Ersten, Vierten und Siebten Buch – tritt nun erstmals das Ich des Erzählers hervor, und zwar sehr massiv und ungeniert, so dass dieser Roman als Musterbeispiel eines auktorialen („allwissenden“) Stils gelten kann. Im Geschehen der labyrinthischen Großstadt Berlin hat der ehemalige Zement- und Transportarbeiter Franz Biberkopf, der zum Totschläger, Einbrecher und Zuhälter wird, nur eine kleine Rolle. Er ist nur ein Mitläufer, der 1918 die Novemberrevolution mitmacht und sich danach mit seiner Losung vom „Anständig bleiben und für sich bleiben“ um Anpassung bemüht. Seine Angst vor dem Chaosleben als einer feindlichen Über-Macht lässt ihn die Hakenkreuzbinde anlegen und Nazi-Zeitungen verkaufen. Er ist auf die Parole „Ruhe und Ordnung“ hereingefallen, mit welcher Hitler die von Unsicherheit und Furcht gequälten Angehörigen aller Klassen und Stände einfing.
Es handelt sich bei diesem Roman, in dem eine weitverzweigte Montage- und Collagetechnik den Leser mit einer schier unendlichen Fülle von Realitätsfetzen überschüttet, nicht schlichtweg um einen „Zeitroman“, vielmehr um die phänomenologische Erfassung einer ganzen Epoche und ganz Europas. Realität wird zur Wahrheit einer ganzen Welt gesteigert, zur sozusagen inneren Wirklichkeit der Epoche, in der jene Realität filtriert, konzentriert enthalten und nicht etwa aufgegeben ist. Es ist eine „zweite“ oder „andere“ Wirklichkeit, die in isolierten „Geschehens“-Akten in Erscheinung tritt und in der bildhaften Personifikation der „großen Hure“ Babylon gipfelt. Die Ereignisabfolge ist hier an die Stelle eines punktuellen Stils getreten, der einst den Ehrgeiz hatte, in jedem einzelnen Moment die Essenz der gesamten Geschichte auszudrücken.
Grass hat in seiner den Band einleitenden Rede zum 10. Todestag seines „Lehrers“ Döblin 1967 diesen einen „utopischen Weltbaumeister“ genannt, den im Exil „der Glaube geschlagen“ hatte. Der Jude Döblin konvertierte im Exil zum Katholiken. Hatte er zehn Jahre zuvor noch den „Geist des naturalistischen Zeitalters“ gefeiert, die Modernität, die in „der Masse der Techniken“ auftrete, erkannte er nun, Ende der 30er Jahre, in der Technikbesessenheit der Nationalsozialisten das „Zerrbild“ seiner damaligen Begeisterung. Die Ausbreitung und zunehmende Brutalisierung dieses Primitiv-Naturalismus musste Döblin auf den anderen Pol seiner Weltsicht zurückführen, die religiös vertiefte Innerlichkeit. Angst und Verzweiflung führten ihn zu Gott. Mit der „Babylonischen Wanderung“ (1934) verlor sich der Exilant Döblin an den wahnwitzigen Versuch, sich aus der katastrophalen Zeitsituation durch die totale Verspottung der Wirklichkeit zu retten. Warum aber ist im Lesebuch auf einen Auszug aus dem gigantischen Südamerika-Roman „Das Land ohne Tod“ (1937/38, 1947) verzichtet worden? Hier greift Döblin noch einmal auf die hymnische Naturverehrung seiner frühen Romane zurück und stellt in der äußeren und seelischen Eroberung Brasiliens durch Conquistadores und Jesuiten den trostlosen Zustand des neuzeitlichen Europäers dar. Dafür gibt es dann aber wieder sehr überzeugende Abschnitte aus der Tetralogie „November 1918“ (1939-50), in der Döblin Halluzination und Vision in inflationärer Weise verwendet, die die Augen für die unsichtbaren Mächte in Universum und Seele öffnen sollen. Und mit dem „Hamlet“-Roman (1956), der das psychoanalytische Heilverfahren des Geschichtenerzählens zum Strukturprinzip machte, erfährt Döblins Schaffen dann einen letzten Höhepunkt. Doch ihm war im Nachkriegsdeutschland kein Erfolg mehr beschieden. Tief enttäuscht kehrte er bald ins Exilland Frankreich zurück und starb gelähmt und fast erblindet 1957.
Die allseitige Angst vor der Ungewissheit lasse sich, so kann man bei Döblin lesen, durch Objektivierung und Objektivität bezwingen, das Vermögen also, sich gleichsam „von außen“ an die Wirklichkeit heranzudenken, immer wieder von neuem, anders, von verschiedenen Seiten. Das könnte für den heutigen Döblin-Leser ein wichtiger Hinweis, ja sogar ein Leitfaden sein. Döblin setzte auf das Unvollendete, das offene Ganze. Das gibt auch dem montagehaften, kaleidoskopartigen Charakter des Lesebuches, dem Lesen in Ausschnitten und Teilstücken seine Legitimität. Das Beispielhafte, „das Exemplarische des Vorgangs und der Figuren“ konnte und kann so für das nunmehr abwesende, weil zersplitterte Ganze einstehen. Und je dichter und vieldeutiger dieses Exemplarische erzählt wurde und wird, desto umfassender und elementarer gab und gibt sich das Ganze zu erkennen.
So wenig sein Werk heute einem breiten Publikum bekannt sein mag, die Literatur seiner und der nachfolgenden Zeit hat Döblin dennoch maßgeblich beeinflusst. Er öffnete den Roman und andere (wie Robert Musil, Hermann Broch, Hans Fallada, Wolfgang Koeppen, Arno Schmidt, Günter Grass usw.) haben diese Offenheit des epischen Kunstwerks tektonisch vertieft. Döblin machte erst den Anfang einer langen Geschichte, die noch lange nicht zuende erzählt ist.
Von Klaus Hammer
Literaturangaben:
GRASS, GÜNTER (Hg.): Alfred Döblin: Das Lesebuch. Ausgewählt und zusammengestellt unter Mitarbeit von Dieter Stolz. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 751 S., 14 €.
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