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Den Schrecken eingrenzen

Der jüdische Dichter Abraham Sutzkever über das Wilner Getto

Von: MARTIN SPIESS - © Die Berliner Literaturkritik, 06.11.09

Theodor Adorno war, zusammen mit anderen Schriftstellern und Intellektuellen, der Ansicht, dass nach Auschwitz nicht mehr gedichtet werden könne. Das Grauen, das die Nazis heraufbeschworen hatten, ließe keinen Platz mehr für die Schönheit der Poesie. Die Literatur jedoch, sie war für viele ein Weg, dem Schrecken einen Namen zu geben: Wenn sie nicht mehr die Schönheit besingen würden, dann den Schrecken benennen. Um ihn fassen zu können. Vielleicht verstehen. Oder ihn zumindest eingrenzen. Auch wenn es schwieriges oder unmögliches Unterfangen war: Welche Worte hatten noch ihre Bedeutung? Gab es überhaupt Worte, die beschreiben konnten, was die Opfer des Nationalsozialismus durchlitten hatten?

In einer Gestalt vereinen sich diese Fragen auf perfide Weise: im Juden Abraham Sutzkever, der als junger Dichter zwischen 1941 und 1944 im Wilner Getto leben musste. Seine Erinnerungen an diese Zeit sind jetzt, in neuer Übersetzung, unter dem Titel „Wilner Getto 1941–1944“ im Ammann Verlag erschienen. Er erlebt hautnah mit, wie Familie, Freunde und Bekannte verschleppt, gefoltert und getötet werden. Seine Frau bekommt ein Kind, das, weil Juden im Ghetto den Gesetzen der Nazis zufolge keine Kinder bekommen dürfen, sofort getötet wird. Sutzkever hat kaum Zeit zur Freude über die Geburt, da wird den beiden das Kind schon entrissen. Sutzkevers Mutter, die sich lange Zeit verbergen konnte, verschwindet plötzlich, kaum dass er vom Tod seines Kindes erfahren hat. Sutzkever selbst überlebt all die Jahre: immer wieder findet sich jemand, der ihm hilft. So wie die einfache Frau Janowa Bartoschewitsch, die Sutzkever in ihrem Keller verbirgt. Man ist versucht, sein Überleben Glück zu nennen, aber wenn man bedenkt, was er miterleben, mit ansehen und mit anhören musste, ist man plötzlich nicht mehr sicher.

Auf einer seiner Fluchten kommt Sutzkever durch den Sakreter Wald. „Meine ersten Gedichte schrieb ich im Schatten seine Bäume“, schreibt er. „Doch jetzt ist er verändert, nicht wiederzuerkennen.“ Verändert. Nicht wiederzuerkennen. Es ist das Unvorstellbare der Taten der Nazis, was die Wahrnehmung und die Sprache für immer verändert. Wie soll man auch einen Wald, in dem man bei Sonnenschein die Schönheit der Welt besang, mit denselben Augen betrachten, die all das Elend gesehen haben? Wie soll man ihn mit denselben Worten beschreiben, die vorher hymnisch und hoffnungsvoll waren? Man merkt Sutzkevers Sprache an, dass er genau diesen nicht zu bewältigenden Akt zu bewältigen versucht hat. Mal ist seine Sprache zerbrechlich und weich, immer wieder ganz und gar sachlich und beschreibend – wie, als würde er anders gar nicht über all den Tod schreiben können. Als er nach der Befreiung über die Massengräber in Ponar schreitet, schreibt er: „Wie kann ich hier so ruhig meine Erlebnisse notieren, wie kann ich überhaupt schreiben, was ich dort gesehen habe, wenn ich doch selbst nicht im Stande bin, es zu begreifen.“ Soviel ist sicher: Mit „Wilner Getto 1941–1944“ liegt ein Zeitzeugenbericht von bezeichnender Dringlichkeit vor. Kann man nach Auschwitz noch schreiben? Ja. Um den Schrecken zu benennen. Um ihn fassen zu können. Vielleicht verstehen. Oder ihn zumindest eingrenzen.

Literaturangabe:

SUTZKEVER, ABRAHAM: Wilner Getto 1941–1944. Aus dem Jiddischen von Hubert Witt. Ammann Verlag, Zürich 2009. 266 S., 19,95 €.

Weblink:

Ammann Verlag

 

Martin Spieß, diplomierter Kulturwissenschaftler, lebt und arbeitet als freier Autor im Wendland. Er ist einziges Mitglied der Gitarrenpopband VORBAND


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