MÜNCHEN (BLK) – Im C.Bertelsmann Verlag ist im April 2011 der Roman „Eine Klasse für sich“ von Julian Fellowes erschienen. Maria Andreas hat ihn aus dem Englischen übersetzt.
Klappentext: Damian Baxter ist steinreich und weiß, dass er bald sterben wird. Er hat nie geheiratet und lebt alleine mit Chauffeur, Butler, Koch, Hausmädchen und allem was dazu gehört. Was ihn aber seit langem umtreibt ist ein anonymer Brief, den er vor zwanzig Jahren erhalten hat. Könnte es tatsächlich sein, dass er damals einen Sohn gezeugt hat? Der einzige, der ihm helfen kann, dies herauszufinden, ist der Mann, mit dem er seit Jahrzehnten tödlich verfeindet ist. Julian Fellowes nimmt die Leser mit in die untergehende Welt des englischen Adels. Und er tut es mit enormer Eleganz und feinstem englischen Humor.
Julian Fellowes wurde am 17. August 1949 in Ägypten geboren und wuchs in England auf. Er studierte Englische Literatur in Cambridge und Schauspiel an der renommierten Webber Douglas Academy of Dramatic Art. Julian Fellowes kennt sich mit den besseren Kreisen des britischen Empire bestens aus. Für sein Drehbuch „Gosford Park“, das Robert Altman verfilmte, erhielt er einen Oscar, und mit „Snobs“ - seinem hochgelobten Romandebüt - landete er auf Anhieb einen Bestseller. Heute lebt er mit seiner Familie in Dorchester, einer Kleinstadt im Südwesten der englischen Grafschaft Dorset.
Leseprobe:
©C.Bertelsmann©
1
London ist für mich zur Geisterstadt geworden, ich selbst zum Gespenst, das darin umgeht. Bei meinen täglichen Besorgungen ist mir, als flüstere jede Straße, jeder Platz, jede Allee von einem vergangenen Lebensabschnitt. Jeder noch so kurze Weg durch Chelsea oder Kensington führt mich an einer Tür vorbei, wo ich einst willkommen war, heute aber ein Fremder bin. Ich sehe mich heraustreten, als junger Mann, herausstaffiert für einen längst vergessenen Anlass, nach einer flippigen Mode, die an die Nationaltrachten irgendwelcher Balkanländer erinnert. Diese wehenden Schlaghosen, diese kragenlosen Rüschenhemden – was haben wir uns bloß dabei gedacht? Und neben meinem jüngeren, schlankeren Selbst tauchen andere Schatten auf, Eltern, Großmütter, Großonkel und Cousins, Freunde und Freundinnen, fortgegangen aus dieser Welt oder zumindest aus dem Leben, das mir geblieben ist. Es gilt als Zeichen des Alterns, wenn die Vergangenheit uns näher ist als die Gegenwart, und schon jetzt spüre ich, wie die Bilder längst verflossener Jahrzehnte nach mir greifen, Bilder, neben denen sich alle Erinnerungen neueren Datums matt und grau ausnehmen.
Verständlich also, dass ich neugierig, um nicht zu sagen verblüfft war, als ich zwischen den Rechnungen, Dankeskärtchen und Spendenaufrufen, die sich täglich auf meinem Schreibtisch stapeln, einen Brief von Damian Baxter fand. Das Letzte, womit ich gerechnet hätte. Seit fast vierzig Jahren hatten wir uns weder gesehen noch gehört, hatten, so merkwürdig es klingt, in verschiedenen Welten gelebt. England ist zwar in vielem ein kleines Land, aber groß genug, dass sich unsere Pfade in all den Jahren kein einziges Mal kreuzten. Allerdings gab es noch einen anderen, simpleren Grund für meine Überraschung.
Ich hasste ihn.
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Ein Blick genügte, um ihn als Absender zu erkennen. Die Handschrift auf dem Umschlag war mir vertraut, freilich verändert wie das Gesicht eines Lieblingsneffen, dem die Jahre schonungslos zugesetzt haben. Selbst wenn sich meine Gedanken jemals zu Damian verirrt hätten, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass er mir einmal schreiben könnte. Oder ich ihm. Ich möchte rasch klarstellen, dass mir seine unerwartete Nachricht keineswegs unangenehm war. Es ist stets erfreulich, von einem alten Freund zu hören, und von einem alten Feind in meinem Alter womöglich noch reizvoller. Denn anders als ein Freund hat er so manches über die eigene Vergangenheit zu erzählen, was man noch nicht weiß. Damian war kein Feind im Sinne eines aktiven Gegners, sondern schlimmer noch, ein ehemaliger Freund. Wir waren im Streit auseinandergegangen, in einem Moment rasender, ungebremster Wut, gezielt darauf aus, alle Brücken zu sprengen; dann hatten wir getrennte Wege eingeschlagen und nie versucht, die Trümmer aus dem Weg zu räumen.
Ich muss schon sagen, der Brief war sehr freimütig. Der typische Engländer wird eine Situation, die mit peinlichen Erinnerungen belastet ist, niemals direkt ansprechen. Er wird alles Unangenehme mit vagen Andeutungen herunterspielen: „Erinnerst du dich an dieses schreckliche Dinner, zu dem Jocelyn uns eingeladen hat? Wie haben wir das bloß überlebt?“ Oder wenn der Stachel auf diese Weise nicht gezogen, der Vorfall nicht verharmlost werden kann, wird er einfach totgeschwiegen. Die Gesprächseröffnung »Wir haben uns schon viel zu lange nicht gesehen« bedeutet in Wirklichkeit oft: »Von mir aus können wir diesen Streit gern begraben. Die Sache liegt doch schon ewig zurück. Schwamm drüber – einverstanden?« Ein williges Gegenüber wird die Antwort in ähnlich verdrängende Floskeln verpacken: „Ja, treffen wir uns doch mal. Was hast du denn so getrieben, seitdem du bei Lazard aufgehört hast?“ Mehr braucht es nicht an Signalen, dass alter Groll ausgeräumt ist und der Weg wieder frei für normale Beziehungen.
Doch Damian wich vom Üblichen ab, mit einem geradezu mediterranen Mitteilungsdrang. „Ich schätze, nach allem, was passiert ist, hast Du nicht damit gerechnet, noch einmal von mir zu hören. Aber Du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn Du mich besuchen kämst“, schrieb er in seiner immer noch ziemlich temperamentvollen, steilen Handschrift. „Nach unserer letzten Begegnung kann ich mir vorstellen, dass Du nicht viel Lust dazu hast. Ich will kein großes Trara machen, aber ich habe nicht mehr lange zu leben, und einem Sterbenden einen Gefallen zu tun, bedeutet Dir ja vielleicht doch etwas.“ Langes Herumdrucksen konnte man ihm jedenfalls nicht vorwerfen. Eine Weile machte ich mir vor, ich müsse es mir überlegen, aber insgeheim war ich sofort entschlossen zu fahren, schon um meine Neugier zu stillen und das versunkene Atlantis meiner Jugend noch einmal aufzusuchen.
Auch wenn es gewisse Gefahren birgt, stemme ich mich nicht länger gegen die traurige Erkenntnis, dass das Leben in meinen jungen Jahren generell erfreulicher war als jetzt. Die heutige Jugend verteidigt verständlicherweise ihre eigene Zeit, was ihr auch zusteht, und wehrt sich gegen unseren nostalgischen Rückblick auf ein goldenes Zeitalter, als der Kunde noch König war, Pannenhelfer vor den Plaketten der Automobilclubs salutierten und Polizisten grüßend an den Helm tippten. Gott sei Dank ist Schluss mit diesen unterwürfigen Respektbezeugungen, heißt es jetzt. Aber solche Respektbezeugungen gehörten zu jener geordneten, sicheren Welt, die im Nachhinein Geborgenheit und sogar Freundlichkeit ausstrahlt. Diese Freundlichkeit, die England vor einem halben Jahrhundert zu eigen war, vermisse ich am meisten. Oder vermisse ich doch eher meine Jugend?
„Wer ist dieser Damian Baxter eigentlich? Warum ist er so wichtig?“, fragte Bridget, als wir später am Abend zu Hause saßen und den überteuerten und zu knapp gegarten Fisch aßen, den wir von unserem italienischen Stammlokal um die Ecke geholt hatten. „Du hast ihn noch nie erwähnt.“ Als Damians Brief eintraf, wohnte ich noch in einer geräumigen Erdgeschosswohnung in Wetherby Gardens, die neben Behaglichkeit alle möglichen weiteren Vorzüge bot, nicht zuletzt eine günstige Lage für die Take-away-Kultur, die uns in den letzten Jahren überrollt hat. Eine einigermaßen vornehme Adresse; ich hätte mir die Wohnung nie selbst kaufen können, sie wurde mir von meinen Eltern überlassen, als sie vor Jahren aus London wegzogen. Die Einwände meines Vaters wischte meine Mutter kühn mit dem Argument beiseite, ich bräuchte schließlich eine Starthilfe; dem hatte er sich dann gefügt. So profitierte ich von der Großzügigkeit meiner Eltern und betrachtete die Starthilfe bald als endgültige Bleibe. Die Einrichtung, an der ich nicht viel verändert hatte, stammte noch von meiner Mutter, an ihrem kleinen, runden Frühstückstisch im Erker fand meine Unterhaltung mit Bridget statt. Die bezaubernden Regency-Möbel und der als lockiger Knabe porträtierte Ahne über dem Kamin hätten wohl ein dezidiert weibliches Flair verbreitet, hätte sich meine Männlichkeit nicht in Form eines eklatanten Desinteresses behauptet, das Mobiliar gefällig zu arrangieren.
Bridget FitzGerald war meine momentane – beinahe hätte ich gesagt „feste Freundin“, aber ich bin nicht sicher, ob über Fünfzigjährige so etwas noch für sich reklamieren können. Der Begriff „Partnerschaft“ ist nicht nur abgenutzt, sondern auch mit Gefahren behaftet. Kürzlich habe ich den Leiter einer mir gehörenden kleinen Firma als meinen „Partner“ vorgestellt, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich die Blicke etlicher Leute, die mich zu kennen glaubten, richtig einordnen konnte. „Bessere Hälfte“ wiederum klingt nach Seifenoper mit einer Golfklubsekretärin in der Hauptrolle, und die Stufe, bei der ich von „meiner Lebensgefährtin“ sprechen würde, hatten wir noch nicht erreicht, obwohl wir nicht mehr weit davon entfernt waren. Jedenfalls waren Bridget und ich „zusammen“, ein etwas ungleiches Paar, ich ein mäßig berühmter Romanschriftsteller und sie eine geschäftstüchtige Immobilienmaklerin, eine gewitzte Irin, die den Zug der romantischen Liebe verpasst hatte und bei mir gelandet war.
©C.Bertelsmann©
Literaturangabe:
FELLOWES, JULIAN: Eine Klasse für sich. Aus dem Englischen von Maria Andreas. C.Bertelsmann Verlag, München 2011. 480 S., 22,99 €.
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