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Der Advokat des Glücks

Alexander Kluge in einer Doppelrezension

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 13.04.07

 

Als 1962 das Buch „Lebensläufe“ erschien, war sein Autor Alexander Kluge, Anwalt von Beruf, gerade dreißig Jahre alt, und die deutsche Nachkriegsliteratur um eine unverwechselbare Stimme reicher.

Die Porträtierten, erfundene wie (unter anderen Namen) real existierende Personen wurden dort so beschrieben, als wären ihre Taten und Unterlassungen dem Protokoll eines Gerichtsstenografen entnommen, wenn schon in einem bei Gericht nicht üblichen, klaren, formellosen Deutsch: lakonische Berichte von Verstrickungen in den Netzen der Naziherrschaft. Persönlicher Ehrgeiz, Verblendung, Zufall, Unglück und zuweilen sogar die Lust am Bösen – all das spielte in diesen „Geschichten“ eine Rolle.

Die Tragödie von Stalingrad

Fast 45 Jahre später erschienen „Dreihundertfünfzig neue Geschichten“ unter dem Titel „Tür an Tür mit einem anderen Leben“. Insgesamt freilich hat Kluge weit über tausend solcher „Geschichten“ geschrieben. Sie sind zu finden in den „Lernprozessen mit tödlichem Ausgang“ (1973) und den „Neuen Geschichten“ (1977), in der zweibändigen „Chronik der Gefühle“ (2000) und dem Band „Die Lücke, die der Teufel lässt“ (2003).

Dazwischen steht die monumentale „Schlachtbeschreibung“ von 1964, in der Kluge in einem über 370 Seiten langen, furiosen (später überarbeiteten) Text die Tragödie von Stalingrad so darstellte, wie es bis heute kein Historiker besser gekonnt hat. Damit nicht genug: Mit Oskar Negt gemeinsam hat er ein philosophisch-soziologisches Werk von einschüchterndem Umfang geschrieben, darunter: „Geschichte und Eigensinn“, von 1981, es handelt von der „Geschichtlichen Organisation der Arbeitsvermögen“.

Dazu kommen um die zwanzig längere und kürzere Filme, von denen mindestens vier heute in jede Cinemathek gehören, die sich mit dem deutschen Kino in der Nachkriegszeit befasst: „Abschied von Gestern“ (1965), „Die Artisten in der Zirkuskuppel, ratlos“ (1967), „Gelegenheitsarbeit einer Sklavin“ (1973), und „In Gefahr und größter Not, bringt der Mittelweg den Tod“. Kluge gehörte zu den Initiatoren des „Oberhausener Manifests“ von 1962, mit dem der Aufstand jüngerer Filmemacher gegen die fortwirkende UFA- und Tobis-Tradition der ersten Nachkriegsjahre begann. Es gelang ihm mit diplomatischem Geschick, advokatischer Schläue und bewunderungswürdiger Hartnäckigkeit, sich innerhalb der trostlosen Öde des Privatfernsehens einen offiziell garantierten Sendeplatz zu später Stunde zu erobern, auf dem er das, was ihm wichtig ist, in den variabelsten Formen darstellen kann; das kann auch einmal die kuriose Betrachtung einer Verdi-Oper sein.

Der Teufel als Unterhaltungskünstler

Angesichts einer solchen Arbeitsleistung – wir haben bei weitem nicht all seine Aktivitäten erwähnt, nur die wichtigsten – bleibt nur die Bewunderung. In diesen Monaten wird Alexander Kluge fünfundsiebzig Jahre alt. Dazu hat er sich, gleichsam als Geburtstagsgeschenk, die „Geschichten vom Kino“ zugedacht, die genau das sind, was ihr Titel verspricht. „Ich halte Kino für unsterblich und für älter als die Filmkunst.“ Er hat darin frühere Bücher, soweit sie zu seinem Thema passten, geplündert und neue Geschichten dazu erfunden, wobei seine Aufmerksamkeit sehr selektiv ist.

Er liebt die frühen Filme, die Zeit, als sich das neue Medium gerade erst von den Rummelplätzen in eigens für die Projektion geeignete Räume verfügte und dort begann, eine zweite Wirklichkeit zu erfinden. Er befasst sich ausführlich mit dem „Magazin des Glücks“ als das der Film sich etablierte (je mehr öffentliches Unglück manifest wurde), und mit dem „Teufel als Unterhaltungskünstler“, denn dass Kino in die Sparte „Unterhaltung“ gehört, daran gab es für ihn kaum je Zweifel, auch wenn seine eigenen Filme eine Form des Genres bevorzugen, das als unterhaltsam auch Artistik, Verwirrspiele und vor allem das Mit- und Selbstdenken des Zuschauers begreift.

Erstaunlich an diesem unterhaltsamen Buch ist neben dem, was es bietet, und was sich nahtlos einfügt in die literarischen Geschichten, die eine Geschichte des 20. Jahrhunderts „von unten“ (oder von der Seite) betrachten, das, was es nicht behandelt, oder nur sehr beiläufig: etwa das „Große amerikanische Kino“, für das Hollywood steht und die meisten der europäischen Versuche, sich davon zu emanzipieren: den realistischen italienischen Film der de Sica, Visconti, Fellini, Pasolini e tutti quanti, die Filme der „nouvelle vague“, die aus Frankreich kam und die autochthonen Versuche anderer Filmländer aus den letzten zwanzig Jahren.

Glückskinder der ersten Globalisierung

Er bleibt normalerweise beim deutschen Leisten (und bei den eigenen und seiner Mitstreiter Versuchen, ihn so zu konstruieren, dass er passt.) Auch hier wechseln Betrachtungen über das Medium Film und seinen angemessenen Platz im „Kino“ mit Geschichten von einzelnen Personen – sie gehen meistens so schief, wie es die Zeitläufte gebieten. Denn, wie es so treffend in einer Verlagsnotiz zur „Lücke, die der Teufel lässt“ heißt, die er vermutlich selbst verfasst hat: „Sichtbar wird: Zeit und Geschichte nehmen auf unsere Lebensläufe und -pläne, auf menschliches Maß keinerlei Rücksicht. Das macht Gefühle rebellisch. Und das hat Folgen“.

Denn (wieder Originalton Kluge): „Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn.“ Und eben dieser Eigensinn lässt sie „Tür an Tür mit einem anderen Leben“ existieren. Wenn Adorno (den Kluge neben Marx und Kant zu seinen Lehrern zählt) behauptet, das es „kein wahres Leben im falschen“ gäbe, so kann man Kluges immenses Werk als einen Versuch begreifen, herauszufinden, ob es das nicht doch gibt: in Lebensläufen, die Entscheidungen möglich machen, richtige und falsche. Das ist die Moral, die auszusprechen er sich verbietet und ohne die doch nichts Sinn hat.

Immer wieder bedient sich dieser Autor der Funde von Astronomie, Teilchenphysik, Quantentheorie (er ist ein gelehrter Mensch), um dem Weltlauf der Sterne und Atome, jenen menschlichen „Eigensinn“ entgegenzuhalten und Spaltpilze in einer geschlossenen Evolutionstheorie aufzuspüren, die das imposante Gebäude des Zwangsläufigen etwas weniger plausibel machen. Er ist ein Aufklärer, aber einer von der ketzerischen Art, die dem Rationalismus nicht vollends traut. Denn die Vokabel, die ihm am teuersten ist, bezeichnet das, was es so selten gibt, und häufiger geben sollte: Glück. „Wir Glückskinder der ersten Globalisierung“ heißt dann auch das erste Kapitel von „Tür an Tür mit einem anderen Leben“.

Die scheinbar Klügeren müssen passen

„Vor 630 Millionen Jahren war die Erde ein eisverkrusteter Ball. Kein Ort für Lebewesen. In den Lücken des Eises hatten sich unsere Vorfahren für Millionen Jahre zur Verteidigung eingerichtet, Lebenskraft gestaut. Jetzt löste sich der Bann, der Planet erwärmte sich. Die Lebewesen breiteten sich über den Erdball aus, zu Wasser, zu Lande. Dies war die erste Globalisierung. Von diesem Glücksfall tragen wir einen Hoffnungsvorrat in uns.“

Aber was haben wir damit angefangen? Davon handeln die Geschichten. Dabei springt Kluge wie ein Erdhörnchen zwischen Zeiten und Situationen, mischt alte Sagen mit modernen Begebnissen und lässt vielen Geschichten Zwiegespräche folgen, in denen die unbenannten Diskutanten zu ergründen suchen, was die jeweilige Geschichte bedeutet. Dies Verfahren zieht sich durch das ganze Buch. Es ist auch in allen anderen Geschichten-Büchern zu finden, längst konstitutiv geworden für seine Art zu erzählen.

Manchmal sind die Dialogpartner Stellvertreter angenommener Leser, die es genauer wissen wollen oder Figuren aus der Geschichte selbst, manchmal Philosophen, die sich über ein ihnen bis dahin unbekanntes Faktum beugen, oder Anwälte, die über einen Vorfall streiten. Sie, die scheinbar Klügeren müssen oft passen: „Das wissen wir nicht“ ist in ihren Gesprächen ein häufiger Satz. Antiker Chor, sokratische Überlegung, kabbalistischer Feinsinn oder banaler Streit: Die Stimmen verkörpern eine Vernunft, die Ordnung in krause Vorkommnisse bringen und Nutzanwendungen daraus ziehen will. Sie finden oft kasuistische Deutungen, situative Erklärungen, stammen also eher aus einen Recht, das sich auf „Fälle“ bezieht, als aus geschriebenen Gesetzen, die seit den Römern unsere juristische Kultur beherrschen. Doch advokatisch sind sie häufig: Es wird argumentiert.

In welcher Wirklichkeit leben wir?

Die Geschichten sind selten poetisch (aber wenn, dann sehr schön), meist aber sind sie bis auf die Knochen ausgebeint, Kluges Lakonismus ist noch karger geworden. Als Ausgleich für den ungemütlichen Mangel an liebenswürdigen, schmückenden Details führt er etwa obskure Quellen ein wie das apokryphe „Thomas-Evangelium“. Es dient ihm dazu, wunderliche Vorfälle als solche zu erklären, die ohne „Wunder“, also das Unerwartete, nicht auskommen. Und das kann durchaus der Eigensinn der Figuren sein, von denen er berichtet.

Die Einzelnen, die in den Geschichten vorkommen, ob es nun Voltaire ist, der angesichts des Erdbebens von Lissabon eine Diatribe gegen den „Tyrann Natur“ schreibt, die die Opfer gegen das blinde Wüten der Elemente verteidigt, oder ein Anwalt, der die Auswahlprinzipien eben dieser Natur, etwa den Aggressionstrieb, gegen moralische Kategorien in Schutz nimmt. Das ist übrigens einige der wenigen Stellen in dem Buch (eine andere lässt einen pensionierten Admiral sprechen, der sich als Sicherheitschef ein Zubrot verdient), wo Kluge einen zynischen Ton anschlägt, ironisch ist er hingegen nicht selten, Humor freilich fehlt fast gänzlich.

Der Krieg, der Große Weltkrieg und alle die ihm folgten, ist so etwas wie der Generalbass fast aller Geschichten. „In welcher Wirklichkeit leben wir, die sich doch permanent mit Unwirklichkeit berührt?“ Was also heißt dann „Wirklichkeit“ post festum?

Die Stimme des Sechsjährigen

Es gibt Zirkus- und Zoogeschichten, die von Tieren handeln, die nach ihren Instinkten handeln, welche von den Menschen nicht beachtet werden. Das führt zu Unglücken. Immer wieder schweift Kluge in frühere Epochen ab – und auch da sind es regelmäßig Kriegshandlungen oder Erfindungen, die seine Aufmerksamkeit erfordern: wobei beide als zu entfernt „vom anderen Leben“ meist Unheil anrichten.

Er nimmt zum Beispiel Abschied von den Lokomotiven, die im 19. Jahrhundert die Welt veränderten, indem sie Entfernungen verkürzten und er wendet sich, wie schon oft seiner durch einen Bombenangriff in den letzten Kriegsmonaten zerstörten Geburtsstadt Halberstadt zu, mit der Insistenz dessen, der eine nie ganz verheilte Verletzung davongetragen hat. In diesem Schlusskapitel erfährt man auch einiges über seine Familie, den Vater, der Arzt war, die Mutter, deren Fluchten ins Nichts führten, auf der Suche nach einem fraglosen Vertrauen, das es für sie nirgendwo gab.

„In mir höre ich den Sechsjährigen, der ich einmal war UND DER ICH AN SICH ZU JEDEM ZEITPUNKT MEINES LEBENS BIN. Oft sprechen in mir auch der Siebzehnjährige oder der Zweiunddreißigjährige. Sie sprechen aber selten zur gleichen Zeit, während die Einwürfe des Sechsjährigen zu jeder der übrigen Stimmen zu passen scheinen.“

Aufklärer und Geschichtenerzähler

Den Sechsjährigen hatte ein für das Kind schlimmer Familienzwist getroffen. Auch da gab es schon Wunden, die hinterließen Narben. Sie tun immer einmal wieder weh. Er schlägt gegen das Hoftor oder sucht unverdrossen weiter nach Schlüsseln, die die Tür doch noch öffnen könnten. Keine Vergeblichkeit entmutigt ihn. Hoffentlich noch lange!

Der Aufklärer und Geschichtenerzähler Kluge, der sich das Moralisieren so streng verbietet, ist ein heimlicher Wundergläubiger, der sich ins andere Leben sehnt und es sich zuweilen gestattet, davon zu träumen. In Geschichten.

Literaturangaben:
KLUGE, ALEXANDER: Tür an Tür mit einem anderen Leben. 350 neue Geschichten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 646 S., 22,80 €.
KLUGE, ALEXANDER: Geschichten vom Kino. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 351 S., 22,80 €.

Rezension:

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Verlag:

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


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