HAMBURG (BLK) – Im August 2008 ist der Roman „Ob wir wollen oder nicht“ von Karl-Heinz Ott beim Hoffmann und Campe Verlag erschienen.
Klappentext: Was passiert, wenn man nichts getan hat und dadurch schuldig wird? Wenn man im Gefängnis sitzt und sich durch Schweigen schützt, obwohl man sich unschuldig fühlt? In einem mitreißenden inneren Monolog entfaltet Karl-Heinz Ott das Seelenpanorama einer Figur, die einmal aufgebrochen war, sich selbst und die ganze Welt zu verändern, um schließlich in jeder Hinsicht im Abseits zu landen. Die einzigen Menschen, auf die sich der Erzähler dieser Geschichte stützen konnte, sind auf der Flucht, während er an ihrer Stelle verhaftet wurde. Es sind seine Freundin Usa und ein ehemaliger Pfarrer, der vor Jahren vom Vorwurf des Kindesmissbrauchs freigesprochen wurde und seitdem am Rand eines verlorenen Dorfes als Eigenbrötler vor sich hin lebte. Jeden von ihnen holt der Alp seiner Vergangenheit ein, was Ott mit einer fulminanten Sprache erzählt, sodass Schrecken und Komik zuweilen kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Karl-Heinz Ott wurde 1957 in Ehingen an der Donau geboren und studierte Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft. Anschließend arbeitete er als Dramaturg an den Theatern in Freiburg, Basel und Zürich. 1998 erschien sein Romandebüt „Ins Offene“, das mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis sowie dem Thaddäus-Troll-Preis ausgezeichnet wurde. Für seinen zweiten Roman Endlich Stille, der 2005 bei Hoffmann und Campe herauskam, erhielt er den Alemannischen Literaturpreis den Candide-Preis sowie den Preis der LiteraTour Nord. 2007 erschien von ihm Heimatkunde. Baden. Karl-Heinz Ott lebt in Freiburg. (bah/vol)
Leseprobe:
© Hoffmann und Campe Verlag ©
Dass ausgerechnet ich hier sitzen muss, ausgerechnet ich, in diesem Loch mit einem Waschbecken, einer Kloschüssel und kahlen Wänden, Wänden mit Schmierereien, allen voran ein Venceremos mit zehn Ausrufezeichen, und das bei schönstem Wetter, an einem fast hochsommerlichen Herbstmorgen, von dem hier drinnen nur ein winziges Viereck zusehen ist, ein wolkenloser Himmelsausschnitt, ausgerechnet heute, an einem Tag, zu dem Regen weit besser passen würde, einem Tag, der an mir hängen bleiben wird wie kein zweiter, weil längst alle wissen, dass ich abgeholt worden bin, zwar anonym, von sogenannten Zivilen, was aber nichts nützt, da den Walter aus dem Nachbardorf jeder kennt und es ihm mehr als peinlich war, ausgerechnet mich zum Mitkommen zwingen zu müssen, mich, von dem jedes Kind weiß, dass ich keinem etwas antun könnte, ausgerechnet ich, der überhaupt keinen Grund hätte, für etwas Vergeltung zu üben, das mir gar nicht angetan wurde. Als könnten diese Beamten nicht auf drei zählen, haben sie mich bloß deshalb festgenommen, weil Lisa und der Pfarrer verschwunden sind und der Maler gesehen haben will, wie ich an diesem Abend aus dem Hof der Wirtschaft gebogen sein soll, was nicht das Geringste bedeutet, weil man mich dort täglich ein- und ausgehen sehen kann, schließlich weiß ja jeder, dass wir etwas miteinander haben, und zwar bereits seit damals, als Bruno noch da war, obwohl Bruno nichts davon bemerkt haben wollte, und sei es, weil er heimlich froh war, entlastet zu sein, was mir zwar nie in den Kopf gehen mochte und ich mir nur sagen konnte, dass es Dinge gibt, die verstehen mag, wer will, Dinge, über die man nur staunen kann und die einem immer fremd bleiben werden. Doch dass ich hier jetzt einsitze, ausgerechnet ich, der nichts getan hat, geht auf keine Kuhhaut, was der Walter genauso sieht, auch wenn er es nicht laut sagen darf, was ihn aber ganz klein werden lässt, als wäre es ihm heute Morgen lieber gewesen, wir würden uns nicht kennen oder wenigstens per Sie miteinander verkehren. Immerhin steckt er, was unsere kleinen Geschäfte anbelangt, mit mir, wenn man so will, unter einer Decke, obwohl diese Geschäfte kaum der Rede wert sind, Geschäfte, die mir nicht viel mehr als eine Geldstrafe einbrächten, ihn jedoch seinen Posten kosten könnten. Und deshalb hätte er diese Fahrt am liebsten einem anderen überlassen, auch um nicht vor mir buckeln und gleichzeitig den Souveränen spielen zu müssen, was Leute wie ihn nur umso erbärmlicher aussehen lässt, Leute, die kein Rückgrat besitzen und sich ständig entschuldigen möchten, anstatt nach außen hin den Schein zu wahren und das Spiel mit Würde mitzuspielen, zumal der andere, der am Steuer saß und wahrscheinlich sein Untergebener war, von unseren Geschichten nichts wissen kann. Allein seinetwegen hätte Walter nicht so kleinlaut auftreten und mir ständig gut zureden dürfen, als wüsste ich nicht selbst, dass das Ganze sich als Missverständnis herausstellen wird, obwohl mir mehr bekannt ist, als ich je zugeben darf, doch das allein kann mich niemals zum Verdächtigen machen, was jeder, der halbwegs bei Sinnen ist, auch einsehen wird.
Ich brauche nur zu erzählen, was an diesem Abend gewesen sei, glaubte er ständig auf mich einreden zu müssen, als könne man sich nicht denken, dass wir entweder zu Abend gegessen oder miteinander geschlafen oder vor dem Fernseher gesessen oder alles zusammen oder Gott weiß was gemacht haben, ohne dass es sich lohnte, darüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren. Genau das gelte es eben zu klären, ich dürfe das nicht falsch verstehen, es sei doch eine Kleinigkeit, darüber Auskunft zu geben, nach einerkurzen Vernehmung sei alles erledigt, außer ich hätte etwas zu verschweigen, was er persönlich nicht im Geringsten glaube, da habe er volles Vertrauen, er habe hier nur seinen Job zu machen, so wie bei jedem anderen auch, da gebe es keine Unterschiede, im Grunde brauche ich keinerlei Angst zu haben, schließlich sei ich in die Sache doch nicht verwickelt, was man aber leider überprüfen müsse, da ich die beiden bestens kenne, so gut wie kein anderer, und an diesem Abend gesehen worden sei, weshalb sich diese Prozedur nicht vermeiden lasse, was jeder halbwegsvernünftige Mensch sicherlich einsehen würde.
Während Walter sich fast um Kopf und Kragen redete, als habe nicht ich, sondern er etwas zu befürchten, überholte der Fahrer, als sei er gereizt, ständig Lastwagen, Busse, Wohnmobile und Traktoren, sogar an Stellen, die nur Selbstmörder herausfordern können, wobei er während der gesamten Fahrt kein einziges Wort sagte, außer als Walter eine Kippe von ihm wollte, was er mit der verächtlich klingenden Frage quittierte: „Seit wann rauchst du?“ – „Die zieht sich heute verdammt lange hin, diese Strecke“, fing Walter an zu stöhnen und begann auf die Windräder zu schimpfen, als könnte ein solches Thema uns ablenken. „Am Anfang dachte ich ja noch, das hat was, aber seit auf jeder Wiese zwanzig Stück von diesen Titanen die Landschaft verschandeln, würde ich sie am liebsten sprengen, alle auf einmal, bei Nacht und Nebel“, steigerte er sich in eine kleine Wut hinein, die einem Unwohlsein, das offensichtlich ganz andere Gründe hatte, Luft verschaffen sollte. Weil keiner von uns reagierte, fing er erneut an, mich zu beruhigen und nachzuhaken, warum ich nicht schlichtweg erzählen wolle, was sich an diesem Abend bei Lisa abgespielt habe, es könne doch nicht so schwer sein, auf eine klare Frage eine klare Antwort zu geben, schließlich würde mich das sofort entlasten, und die Sache wäre erledigt, Schluss, Aus, Amen, so einfach sei das.
Ja, so einfach sei das, dass es nicht das Geringste zu erklären gebe, das könne er sich doch denken, warum er sich denn dumm stelle, den Blöden spiele, schwachsinnige Fragen stelle. „Herrgottnochmal, seid ihr alle verrückt geworden?!“, fluchte ich in den Kurven das Höllental hinab, nachdem er mit seinen immergleichen Aufmunterungen und Ermahnungen keine Ruhe geben wollte und erst in der Stadt, als wir am Friedhof entlang im Stau standen, kopfschüttelnd in sich zusammensackte und endlich verstummte, wobei ich mich fragte, warum er nicht Streifenpolizist oder Strafzettelverteiler geworden ist, was ihn vor solchen Situationen bewahrte, zumal man nicht den beliebten Wirtshaussitzer und distanzierten Beamten zugleich geben kann. Als könnte es für lange Zeit meine letzte Fahrt über den Schwarzwald gewesen sein, hatte ich mir auf der Strecke hierher die Wald- und Wiesenwinkel, Kirchtürme und Felsvorsprünge wie etwas noch nie Gesehenes einzuprägen versucht, um – sollte es anders als erhofft kommen – in einer tristen Umgebung von diesen Bildern zehren zu können.
Spätestens morgen, wenn nicht noch heute Abend, sei ich wieder daheim in meinen eigenen vier Wänden, fing Walter nochmals an, bevor wir von einem Polizisten durcheinen Torbogen gewinkt wurden, ein Eisentor sich öffnete und am Ende des Innenhofs uns ein weiterer Beamter mit der Frage „Kommt ihr von Dornbach herab?“ begrüßte. Als sei ich ein Gast, der sich freiwillig auf den Weg hierher gemacht hat, bat man mich einzutreten und im Flur Platz zu nehmen. „Heiß ist’s heut, man möchte nicht glauben, dass wir Ende September haben! Was haben Sie denn dabei?“, zeigte der Polizist auf meine Tasche, wartete aber eine Antwort erst gar nicht ab, sondern erklärte: „Sie sind nur ein paar Stunden hier, allenfalls eine Nacht, dann sehen wir weiter, ob Sie bei uns bleiben oder wieder nach Hause dürfen“, als würden wir beide entscheiden, er und ich, ob ich wieder entlassen oder eingebuchtet werde, als sei ich ein Kind oder ein seniler Patient, zu dem die Krankenschwestern sagen: „Heute essen wir aber schön auf, und dann gehen wir brav schlafen.“
© Hoffmann und Campe Verlag ©
Literaturangaben:
OTT, KARL-HEINZ: Ob wir wollen oder nicht. Roman. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008. 208 S., 17,95 €.
Rezension
Verlag