BERLIN (BLK) – Im Juni 2011 erscheint im Suhrkamp Verlag der Roman „Die Augen des Meeres“ von Ioanna Karystiana erstmals als Insel-Taschenbuch. Aus dem Griechischen hat es Michaela Prinzinger übertragen.
Klappentext: Dimitris Avgustis fährt seit sechzig Jahren zur See. Das Meer hält ihn gefangen, und trotz seines Alters weigert er sich beharrlich, das Kommando über sein Schiff abzugeben. In der Heimat warten zwei Frauen vergeblich auf seine Rückkehr: seine große Liebe Litsa, deren Liebesbriefe er alle auswendig kennt, und seine Ehefrau Flora. Auch Flora hadert mit dem Schicksal, war sie doch einst ebenfalls in einen anderen Mann verliebt und hat dieser Liebe entsagt. Als sie eines Tages zu handeln beschließt und überraschend an Bord kommt, um Dimitris nach Hause zu holen, macht sie eine Entdeckung, die ihrer aller Leben von Grund auf verändern wird…
Ioanna Karystiani wurde im Jahr 1952 in Chania, Kreta geboren. Nach ihrem Jurastudium in Athen machte sie sich als Cartoonistin und Drehbuchautorin einen Namen. Sie arbeitete in Kooperation mit „Greek Public Television“, dem ZDF und „MTV Finnland“ an Serienproduktionen, Künstler- und Autorenportraits. Sie portraitierte u. a. Christa Wolf, Yoran Silt und Karolos Koun. Ihre Cartoons erschienen in führenden Athener Tageszeitungen und Magazinen. Ihre Cartoonsammlungen wurden in Griechenland publiziert, in zahlreichen anderen europäischen Ländern und den USA. Für das Fernsehen zeichnete Karystiani Cartoons und Collagen zur Musik des großen Komponisten und Oskargewinners Manos Hadjidakis, für seine jüngste LP entwarf sie den Videoclip. Zuletzt war Ioanna Karystiani am Szenenentwurf des Films „Brides“ beteiligt, die Regie in diesem Film führt Pantelis Voulagris, Produzent ist Martin Scorsese. Ihr literarisches Debut feierte Ioanna Karystiani mit einer Kurzgeschichtensammlung, die von vier verschiedenen Theaterensembles bearbeitet wurde. „Die Frauen von Andros“ war ihr erster Roman und wurde sofort ein großer Erfolg. Er hielt sich monatelang auf der griechischen Bestsellerliste, wurde 1998 mit dem griechischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet und für den Aristeion-Preis nominiert.
Leseprobe:
©Suhrkamp©
Um fünf Uhr morgens tänzelte vor den vereinzelten, bereits drei Meilen entfernten Lichtern, die von Port Pirie über den Hügel fielen, der weiße Kater, wie stets in den vergangenen vier Jahren, akrobatisch die Reling entlang, auf rosafarbenen Tatzen einen Spitzentanz vollführend, den Schweif wie eine zitternde Balancestange hochgereckt. Er umrundete langsam das ganze Schiff, zweihundertsiebzig Meter lang, hielt achtern inne und verneigte sich vor den beiden Männern, die breitbeinig und die Hände im Rücken verschränkt dastanden.
— Maritsa, sagte Kapitänleutnant Kleanthis Birbilis.
Vor dieser Maritsa zeigte drei Jahre lang die Katzenmutter Maritsa dieselbe Choreografie, davor Maritsa, der Großvater, noch früher Maritsa, die Urgroßmutter, und davor noch der erste und unerreichte Lehrmeister, der feurige Kater von weiblicher Eleganz mit dem Cha-Cha-Schritt, auch er fraglos aus dem Hause Maritsa. Alles Katzen, die zur See fuhren.
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— In Kuba haben die Spanier eine Katze der Eingeborenen vors Kriegsgericht gestellt, nachdem sie einen ihrer Papageien zerfetzt hatte, und sie hinrichten lassen, meinte der vierzigjährige Kapitänleutnant zu Maritsa. Die tägliche Vorstellung des Katers brachte regelmäßig historische Einzelheiten aus dem unerschöpflichen Fundus zum Thema Katzen zum Vorschein.
— Nur an den Gurken konnten wir uns satt essen, der Garten war spät dran.
Endlich, als es tagte, sprach auch Kapitän Mitsos Avgoustis, mittelgroß, in frisch gebügelter Kleidung, mit weißem, schulterlangem Haar und wallendem, bis zur Brust reichendem silbergrauen Vollbart, wobei beides von seinen fünfundsiebzig
Lebensjahren und von seiner Leidenschaft für Haarpflege und Eau de Cologne kündete.
Gurken und Garten waren Worte, die er von seinem Vater geliehen hatte und die sich auf den kleinen Gemüsegarten in Adzanos bezogen, vor langer Zeit, Anfang September 1922.
Triantafyllos Avgoustis, ein dreißigjähriger Fischer damals, hatte seiner Frau, die den noch nicht vierzig Tage alten kleinen Dimitris im Arm hielt, die dreijährige Tochter Mersina mit einem Seil auf den Rücken gebunden und brachte die Familie auf die zehn Meter lange rotblaue GARYFALLOS seines Arbeitgebers, auf der auch Nachbarsfamilien noch irgendwie Platz fanden, und in mehrmaligen Fahrten wurde ganz Adzanos mithilfe der Besatzung dreier Fischkutter auf kleinen Passagierschiffen mit Mann und Maus ans gegenüberliegende Ufer geschafft.
Und dann standen sie am Strand und blickten auf die Rauchschwaden. Das Smyrna der Griechen gab es nicht mehr. Am nächsten Morgen waren Triantafyllos und die GARYFALLOS verschwunden. Und am übernächsten Morgen waren sie immer noch nicht wieder da.
Der kraushaarige Fischer mit den großen braunen Augen, deren Farbe an Mokkaschaum erinnerte, war todunglücklich, weil er seine Katze in Kleinasien vergessen hatte. Einen Monat vor der Flucht hatte sich Maritsa, schwanger und mit einer Kreuzotter zweimal um den Bauch geringelt, halb tot bis zur Mole geschleppt und stand, erschöpft miauend, vor der GARYFALLOS.
Zwei Mann, die gerade die groben Schleppnetze und die Sardellennetze flickten, zerhackten eine Fischkiste, teilten sich die Bretter und prügelten so lange auf die Schlange ein, bis ihr Kopf zu Brei geschlagen war.
Triantafyllos Avgoustis fuhr allein nach drüben, um Maritsa und ihre drei Jungen zu suchen. Sieben Tage später,während die Frau dem Ehemann und der Chef dem Fischer und dem Kutter nachweinten, standen Dutzende Einwohner von Adzanos da, stumm im dunkelvioletten Abendlicht, das auf die Felsen von Lesbos fiel, und blickten stolz auf Triantafyllos, der mit der GARYFALLOS zurückkehrte, und sie vernahmen ein ohrenbetäubendes Miauen. Der Kutter drehte an der Küste bei und brachte die letzte Flüchtlingswelle, die siebenundzwanzig Katzen von Adzanos an Land, die der Fischer, nachdem er die Geisterstadt
gründlich durchsucht hatte, noch auftreiben konnte.
Er teilte sie auf ihre Herrchen und Frauchen auf, die Jatzoglous nahmen Hanum, Jovanakis seine Kiki, die Chirimberis ihre Athina, Eleni nahm ihre Eleni und Sotiris seinen Sotiris, doch keiner von ihnen, weder an jenem Tag noch später, entlockte dem waghalsigen Triantafyllos auch nur einen Ton über das Zurückgelassene, das er erblickt hatte. Frag deine Katze, sie wird dir ihre Geschichte erzählen, entgegnete er stets und ging schnell weg.
Seit 1922 hob er seinen Blick nicht mehr zum Sternenhimmel. Er litt an Nervenschwäche und widmete sich ganz den Katzen, mästete sie mit zahllosen Stachel- und Fadenmakrelen, ließ die ursprüngliche und alle nachfolgenden Maritsas sogar auf den Fangnetzen für Seezungen und Barben ihr Lager aufschlagen, die sie, seine Nachsicht ausnutzend und wild umherspringend, mit ihren Krallen zerrissen.
Triantafyllos Avgoustis’ Augen jedenfalls, größer denn je, erregten seine Eleftheria immer noch, gratis Mokkaschaum war die einzige Freude in der Mittellosigkeit jener Jahre, als die Menschen immer nur auf der Flucht waren, immer nur Verluste machten.
Doch zu einem weiteren Kind kam es nicht, die spinnwebenzarte Mersina verstarb mit sieben an Lungenentzündung. Und dem Ehepaar blieb der einzige Sohn, verzärtelt und einziger Blauäugiger der Flüchtlingssiedlung, ein Schaumfischchen, das durch die Wellen Tausender gelber Margueriten pflügte. In Griechenland hatte die Fluchtwelle die Welt in Hier und Dort geteilt, und das armselige Elefsina wurde ihr Schicksal.
Auf dem Achterdeck des Frachters ATHOS III erinnerte sich nun jener Sohn, der heutige Kapitän, während er Maritsa mit den halbzerfetzten Ohren streichelte, an die Geschichte, ohne sie nochmals zu erzählen, und der Kapitänleutnant erinnerte sich ebenso daran, ohne sie nochmals zu hören, denn sie war bekannt, der Satz von den Gurken genügte, führte eine Reihe andere Gedanken im Schlepptau hinter sich her, um die Tragödie abzurunden.
— Guten Morgen.
©Suhrkamp©
Literaturangabe:
KARYSTIANI, IOANNA: Die Augen des Meeres. Aus dem Griechischen von Michaela Prinzinger. Insel Taschenbuch 4029. Suhrkamp Verlag. Berlin 2011. 311 S., 8,95 €.
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