MÜNCHEN (BLK) – Der Heyne Verlag hat John Grishams Meisterstück „Der Anwalt“ im August 2009 veröffentlicht. Aus dem Amerikanischen von Dr. Bernhard Liesen, Kristiana Dorn-Ruhl, Bea Reiter und Imke Walsh-Araya. Die Originalausgabe ist unter dem Titel „The Associate“ bei Doubleday, New York erschienen.
Klappentext: Kyle McAvoy steht eine glänzende Karriere als Jurist bevor. Bis ihn die Vergangenheit einholt. Eine Frau behauptet, Jahre zuvor auf einer Party in Kyles Wohnung vergewaltigt worden zu sein. Kyle weiß, dass diese Anklage seine Zukunft zerstören kann. Und er trifft eine Entscheidung, für die er mit allem brechen muss, was bisher sein Leben bestimmt hat. Der neue Grisham – ein Thriller um Macht, Korruption und eine Welt, der jegliche Moral abhandengekommen ist.
John Grisham wurde am 8. Februar 1955 in Jonesboro, Arkansas geboren, studierte in Mississippi und ließ sich 1981 als Anwalt nieder. Der Aufsehen erregende Fall einer vergewaltigten Minderjährigen beeindruckte ihn nachhaltig und brachte ihm zum Schreiben. In Früh- und Nachtschichten wurde daraus sein erster Thriller, „Die Jury“, der in einem kleinen, unabhängigen Verlag erschien - der Beginn einer beispiellosen Erfolgsgeschichte. Alle seine Romane sind bei Heyne erschienen, zuletzt „Berufung“. (olb/ros)
Leseprobe:
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Die Statuten der Jugendliga von New Haven sahen vor, dass jeder Basketballspieler bei jedem Spiel mindestens zehn Minuten zum Einsatz kommen sollte. Ausnahmen gab es nur, wenn Spieler ihren Coach verärgerten, indem sie das Training schwänzten oder andere Regeln missachteten. In solchen Fällen verfasste der Coach vor dem Spiel einen Bericht, um den Scorekeeper zu informieren, dass der Spieler soundso wegen einer Regelverletzung nicht lange spielen werde – wenn überhaupt. Die Organisatoren der Jugendliga sahen so etwas nicht gern. Ihnen ging es mehr um die sportliche Betätigung an sich als um den Wettkampfaspekt. Vier Minuten vor dem Ende des Spiels ließ Coach Kyle Mc- Avoy den Blick über die Jungs auf der Bank schweifen. Dann nickte er einem mürrischen, schmollenden Jungen namens Marquis zu. „Willst du spielen?“ Ohne zu antworten, ging Marquis zum Scorekeeper-Tisch und wartete darauf, dass das Spiel durch einen Pfiff unterbrochen wurde. Er hatte sich einiges zuschulden kommen lassen – Training schwänzen, Schule schwänzen, schlechte Noten, Verlust des Trikots, unflätige Ausdrücke. Eigentlich hatte er nach zehn Wochen und fünfzehn Spielen gegen jede Regel verstoßen, die der Trainer seinen Spielern auferlegte. Da Coach Kyle längst klar war, dass sein kleiner Star auch jede neue Vorschrift verletzen würde, hatte er der Versuchung widerstanden, weitere Regeln aufzustellen, und seine Liste sogar zusammengestrichen. Es funktionierte nicht. Der Versuch, die Jugendlichen aus den heruntergekommenen Innenstadtvierteln mit Samthandschuhen anzufassen, hatte dazu geführt, dass die Red Knights in der Winterspielzeit der Liga für bis zu Zwölfjährige auf dem letzten Tabellenplatz standen. Marquis war erst elf, aber zweifellos der beste Spieler auf dem Platz. Er wollte lieber auf den Korb werfen und punkten, statt zu passen und zu verteidigen. Kaum war er zwei Minuten im Einsatz, da hatte er schon etliche, deutlich größere Abwehrspieler ausgetrickst und sechs Punkte erzielt. Sein Durchschnitt lag bei vierzehn, und hätte man ihn länger als die Hälfte der Matchdauer spielen lassen, wäre er vermutlich auf dreißig gekommen. Er selbst war der Ansicht, in seinem Fall sei Training überflüssig. Doch trotz dieser One-Man-Show hatten die Red Knights keine Chance. Kyle McAvoy saß schweigend auf der Bank, sah seinem Team zu und wartete darauf, dass es endlich überstanden war. Noch ein Spiel, dann war die Saison vorbei, seine letzte als Basketballcoach. In zwei Jahren hatte er ein Dutzend Spiele gewonnen und zwei Dutzend verloren, und er fragte sich, wie jemand, der bei klarem Verstand war, freiwillig den Job eines Trainers übernehmen konnte, egal in welcher Spielklasse. Du tust es für die Jungs, hatte er sich tausendmal gesagt. Für Jungs, deren Väter verschwunden waren, die kein richtiges Zuhause hatten, ein positives männliches Leitbild brauchten. Er glaubte immer noch daran, doch nach zwei Jahren hatte er die Nase voll. Er hatte den Babysitter gespielt, mit Eltern gestritten, falls mal welche aufgetaucht waren, sich mit Trainern angelegt, die gemauschelt hatten, und versucht, sich nicht über jugendliche Schiedsrichter zu ärgern, die einen Block nicht von einem Foul unterscheiden konnten. Jetzt war es genug mit dem sozialen Engagement. Zumindest in dieser Stadt. Er verfolgte das Spiel und wartete auf das Ende. Gelegentlich brüllte er seine Spieler an, wie es von einem Trainer erwartet wurde. Hin und wieder blickte er sich in der fast leeren Sporthalle um, einem betagten Backsteinbau in der Innenstadt von New Haven, wo schon seit fünfzig Jahren Spiele der Jugendliga stattfanden. Auf den Tribünen saßen nur wenige Eltern, die alle darauf warteten, dass es endlich vorbei war. Marquis traf erneut, niemand applaudierte. Noch zwei Minuten, die Red Knights lagen zwölf Punkte zurück. Am hinteren Ende des Platzes, direkt unter der altertümlichen Anzeigetafel, trat ein Mann in die Halle und lehnte sich an eine verschiebbare Tribüne. Er fiel Kyle auf, weil er weiß war – in beiden Mannschaften gab es keine weißen Spieler. Auch seine Kleidung war ungewöhnlich. Schwarzer oder dunkelblauer Anzug. Weißes Hemd mit weinroter Krawatte. Und ein Trenchcoat, der an einen FBI-Beamten oder Detective denken ließ. Es war Zufall, dass Kyle ihn eintreten sah. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass der Mann hier deplatziert wirkte. Wahrscheinlich irgendein Cop, vielleicht von der Drogenfahndung, der einen Dealer suchte. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass einer in oder vor der Sporthalle festgenommen wurde. Der an der Tribüne lehnende Mann warf einen langen, misstrauischen Blick auf die Bank der Red Knights, dann fasste er ihren Coach ins Auge. Kyle starrte den Fremden für einen Moment an, und plötzlich wurde ihm unbehaglich zumute. Marquis wagte einen Wurf fast von der Mittellinie und traf nicht einmal den Ring. Kyle sprang auf und spreizte verzweifelt die Hände, als wollte er „Warum?“ fragen. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, schlurfte Marquis in die Verteidigung zurück. Kurz darauf wurde die Uhr wegen eines dummen Fouls angehalten. Das Elend wollte kein Ende nehmen. Kyle beobachtete den Freiwurfschützen, dann glitten seine Augen erneut zu dem Mann in dem Trenchcoat, der jenseits des Werfers stand und sich nicht für das Spiel, sondern allein für ihn zu interessieren schien.
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Literaturangabe:
GRISHAM, JOHN: Der Anwalt. Heyne, München 2009. 448 S., 21,95 €.
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