Von Roland H. Wiegenstein
Ach ja, die gute alte Zeit! Wenn es sie denn je gab, wo ist sie geblieben? Versunken im 20. Jahrhundert, begraben unter zwei Weltkriegen, zahllosen Völkermorden und Umstürzen. Wer kann sich noch an sie erinnern? Zumal wenn man sie in den Jahren vor 1914 ansiedelt, also der Epoche unserer Urgroßeltern. Allenfalls die Älteren können sich noch an die Augenzeugen, ihre eigenen Vorfahren, „erinnern“ – vom Hörensagen. Und natürlich aus Büchern. Ein neues stammt von dem 1970 in Hamburg geborenen, in Wien lebenden Philipp Blom: „Der taumelnde Kontinent“. Der Historiker und Journalist hat dafür ein ungewöhnliches Verfahren gewählt: Aus jedem der Jahre von 1900 bis 1914 wählt er ein für dieses Jahr bezeichnendes Ereignis aus und behandelt es als Dreh- und Angelpunkt seiner Epochengeschichte, die eine voller Geschichten ist. Und je weiter man darin liest (man kann schwer aufhören, so spannend ist das, was er ausbreitet, so wenig wussten wir davon vorher), desto mulmiger wird einem. Wie vieles von dem, was wir überwunden wähnten, steckt noch in unseren Köpfen! Wie sehr sind wir geprägt von dem, was damals erfunden, erdacht, geschaffen wurde! Und dabei hat uns Blom doch listig in seiner Einleitung vorgeschlagen, alles zu vergessen, was „nachher“ passiert ist: neue Staaten, Kriege, Lager …
Blom beginnt seine Tour d’ Horizont mit der zweiten Weltausstellung in Paris, der von 1900, er schildert die Pracht der Inszenierung und macht jäh eine unvermutete Volte: „Nichts, aber auch gar nichts wies darauf hin, was sich im selben Moment abspielte: der größte Völkermord mit geschätzten zehn Millionen Opfern. Er wurde verübt in Belgisch-Kongo unter der persönlichen Aufsicht Seiner Majestät König Leopold II. von Belgien, einem von vielen gekrönten Häuptern, die es sich nicht nehmen ließen, die Weltausstellung zu besuchen.“ War es wirklich so arg? Und so unbeobachtet? Blom kommt darauf zurück: Es war so schlimm. Doch die Besucher der Weltausstellung waren an anderem interessiert: an den technischen Errungenschaften, am Dynamo. „Die Weltausstellung zeigte eine neue, technologische Welt, die man mit den tröstlichen Rüschen längst vergangener Tage überzogen hatte.“ Wichtig war das Tempo, die Geschwindigkeit, der Fortschritt.
Schon dies erste Kapitel macht Bloms Methode klar. Er zeigt Widersprüche auf, Gegensätze, Unvereinbares. Das mag orthodoxen Dialektikern problematisch erscheinen, weil er alles nebeneinanderstellt: Die „Vermittlung“ dazwischen überlässt er den Lesern. Doch schon hier tritt neben den Triumph der Absturz: die unsägliche Dreyfus-Affäre. Nicht nur, dass diese eine schändliche Machination darstellte: Sie ist typisch für die Zeit, nämlich als „Symbol der Ängste und der Wut seines Heimatlandes“, Frankreichs nämlich. Und was sie andeutet, eine beginnende Unsicherheit, das lässt sich auch in anderen Ländern beobachten.
Liegt der Hauptakzent da noch auf Frankreich, so verweist 1901 auf England, die damals mächtigste Nation. Im Januar war Königin Victoria gestorben: Eine vom Adel dominierte Gesellschaft ging zu Ende: „Billige Produkte trafen die britische Landwirtschaft mit voller Wucht.“ Und damit den Lebensnerv und das Auskommen der Gentry. „Für die britischen Kaufleute war dies eine wunderbar lukrative Entwicklung. Für die adligen Landbesitzer eine Katastrophe.“ Nicht nur in England, auch in Russland und überall dort, wo die alte ständische Gesellschaft auch politisch das Sagen hatte. Am wenigsten noch im Deutschen Reich, das niemals eine Revolution gesehen hatte, die mehr gewesen wäre als eine Revolte. Blom führt zahlreiche Beispiele an und macht damit auf einen zweiten Vorzug seines Unternehmens aufmerksam: Er belegt, was er zeigen will, mit Geschichten. Etwa mit der des Herzogs von Sachsen-Altenburg, aber auch mit der der aufstrebenden Klasse eines selbstbewussten Bürgertums, das sich von adligen Titeln einfangen ließ und in Wilhelm II. ein Vorbild sah.
1902 ist für Blom die Gelegenheit, sich tiefer mit der neuen „Sprache“ in Wissenschaft und Kunst einzulassen: Sigmund Freud wird zum Privatdozenten ernannt, behandelt vornehme Damen und ihre Hysterien. Er vermutet, sie beträfen nicht nur seine Klientel. In Paris wird Strawinskys „Sacre du Printemps“ zum Skandal: In den unerhörten Rhythmen meldet sich – ebenso wie bei Freud – das Unbewusste zu Wort, das hinter Wohlanständigkeit versteckte: die Barbarei, die Unvernunft, die beschwiegene, ins Bordell verbannte Sexualität.
1903 dann der Nobelpreis für Physik an Maria Sklodowska, Madame Curie, die zusammen mit ihrem Mann Pierre unsere „strahlende Zukunft“ entdeckte, ohne dass die eifrigen Naturwissenschaftler, die damit experimentieren, der Gefahren inne wurden, Marie Curie starb – viel später – „verstrahlt“ an Leukämie. Die Kritik der Wahrnehmung freilich setzte schon ein, Bergson und Mach hießen die Philosophen der Stunde und der Amerikaner William James zog daraus Konsequenzen: Er „zog seinen Kollegen den metaphysischen Teppich unter den Füßen weg, indem er behauptete, die Wahrheit sei nur dann relevant, wenn sie einen nachweisbar positiven Effekt auf die Welt habe: Nur was gut ist für uns, ist auch wahr. Hans Vaihinger schrieb die „Philosophie des Als ob“. Die Neurasthenie machte die Runde, ein volkstümlicher Verschnitt aus weithin missverstandenen Einsichten Freuds und dem, was wirklich war und was wir heute „burn out“ nennen. Um 1880 war Wissenschaft ein „Synonym für Fortschritt“ gewesen, aber die neuen Autoren (und Künstler) „sahen oft Grund genug, die technologisierte Zukunft zu fürchten und die Mächte, die von der Wissenschaft entfesselt wurden, als potentielle Katastrophen zu begreifen“. Blom macht auf die technoiden Zukunftsromane aufmerksam, die kursierten (und zeigt nebenbei, dass diese in Deutschland eben nicht geschrieben wurden: Dort blieb man beim romantischen Karl May!).
1904 erschienen in England die ersten objektiven Berichte über die kolonialen Scheußlichkeiten im Kongo, verfasst von dem britischen Regierungsbeamten Casement, der durch einen kleinen Reederei-Angestellten, Edmund Morel, darauf aufmerksam geworden war. Dieser war der Einzige gewesen, der als Philanthrop sich nicht abfinden wollte mit dem, was der „Kolonialwarenhandel“ anrichtete: Mord und Unglück. (Später wird Blom den damaligen Kolonialmächten die ökonomische Rechnung aufmachen: Die ungeheuren privaten Profite in den Kolonien machten die Staaten arm, selbst England und Belgien.) Morel betätigte sich als Menschenrechtsaktivist, aber auch seine mit Geschick vorgetragenen Kampagnen waren nicht wirksam genug, das koloniale Treiben zu beenden, Leopold II. verkaufte (!) seinen kongolesischen Besitz (weil nicht mehr profitabel genug) an den Staat, derweil das wilhelminische Deutschland die Hereros schlachten ließ. Die Bürger waren desinformiert und desinteressiert. Morel starb gebrochen mit 51 Jahren, Casement wurde gar hingerichtet, weil er als Ire in die Unabhängigkeitskämpfe seines Landes verstrickt war.
1905: das Jahr Russlands. In St. Petersburg wurden Hunderttausende zu Paaren getrieben, die doch nichts anderes gewollt hatten, als dem Zaren einen Bittbrief zu überreichen. Blom zeigt die Zurückgebliebenheit des Zarenreichs, die Revolten in Städten und Dörfern – und ihr Scheitern. „Anders als im Westen und entgegen der späteren sozialistischen Propaganda bildeten die russischen Arbeiter nie ein urbanes, industrielles Proletariat. Die Fabrikarbeiter waren nur vom Land geborgt, die meisten kehrten in ihre Dörfer zurück, sobald sie genug Geld verdient hatten.“ Seit 1905 brodelte es immer wieder, es gab Bombenanschläge und Aufstände. „Nikolaus II. wollte einen im Prinzip mittelalterlichen Staat, der von einer modernen, industriellen Wirtschaft getragen werden sollte.“ Wenn man etwa den Namen des Zaren durch den Putins ersetzte, statt „mittelalterlichem Staat“ Gas-Ökonomie setzte: Was hätte sich geändert? Polemik? Unvergleichbares? Oder ist daran doch etwas Richtiges? Nikolaus leistete sich noch den (verlorenen) Russisch-Japanischen Krieg und lebte in seinen Palästen.
1906 ist für Blom wieder ein englisches Jahr: Stapellauf der „Dreadnought“, eines monströsen englischen Schlachtschiffs, das Virginia Woolf schon bei seiner Einweihung mit einer subversiven Aktion lächerlich machte und das nie zum Einsatz kam, aber so heftig mit den maritimen Großmachtträumen von Wilhelm II. kollidierte, dass es die dynastische Freundschaft der Monarchien zerstörte. Das Wettrüsten hatte begonnen. Blom benutzt dieses Kapitel auch zu einer Kritik der „Manneskraft“, des virilen Gehabes, das sich vor allem in Duellen niederschlug und in der bürgerlichen Verehrung des Militärs, die im „Reserveoffizier“ bei den höheren und mittleren Ständen in Deutschland grassierte, das der Schuhmacher Voigt, alias Hauptmann von Köpenick, ausnutzte und dem Heinrich Mann im „Untertan“ später die klingende Schelle umhängte.
Aber er erwähnt auch die graue Eminenz Friedrich von Holstein und Wilhelms Freund „Phili“, den Fürsten von Eulenburg, die aneinandergerieten und Maximilian Harden mit dem nötigen Presseskandal versorgten. Die Angst der Männer drückte sich in jeder Verurteilung von Homosexualität aus und ein früher Bodybuilder namens Sandow sorgte für volle Säle. Im Hintergrund spukte Nietzsche, der gründlich Missverstandene. „Eugene Sandow und Kaiser Wilhelm, Dreadnought-Schlachtschiffe, Duelle und Bodybuilding, Marineanzüge und große Paraden – all dies waren sowohl Mosaiksteine in diesem Kult der Männlichkeit, als auch Reaktionen auf eine verbreitete Unsicherheit über männliche Identitäten.“
1907 wird am 15. Juni die zweite Friedenskonferenz in Den Haag eröffnet: „Die 256 Delegierten aus 42 Ländern hatten nur zwei Dinge gemein, sie schwitzten in ihren Gardeuniformen, langen Gehröcken und steifen Kragen; und sie hatten keinerlei Interesse an einem Friedensabkommen, das sie als nichts weiter betrachteten als ein lästiges Hindernis für die gesunde Bewährung eines Volkes auf dem Schlachtfeld.“ Und doch – es gab sie: die Pazifisten, angeführt von Bertha von Suttner und Ivan Bloch, denen man allenfalls interessiert zuhörte. Wurden sie lästig, erschoss man sie wie den Sozialisten Jean Jaurès. Hier beschäftigt sich Blom auch mit anderen Phänomenen der friedlichen, gleichwohl von soliden Mehrheiten verdammten Abweichungen, der Bohème etwa, für die er die realistische deutsche Autorin Franziska von Reventlow namhaft macht und dann all die Außenseiter, die „dionysische“ Gefühle hegten, nackt auf dem Monte Verità in Ascona herumliefen oder auf italienischen Inseln.
Oder die der „Einklang mit der Natur“ wandern oder Musik schreiben ließ, Gustav Mahler etwa – und schließlich Stefan George. (Hier findet sich auch einer der wenigen Fehler Bloms: Georges Freund Max Kommerell ist keineswegs „früh verstorben“.) Gemeinschaft statt Gesellschaft hieß das Stichwort der Unangepassten. Und dazu gehörten auch die wiederentdeckte Mystik (vor allem russischer Provenienz, Madame Blavatsky) und natürlich Tolstoi. Blom beschäftigt sich seitenlang mit Rudolf Steiners Ersatzreligion und den alternativen Schulen seiner und anderer Couleur. „Ob durch Sozialismus, Erziehungsreform oder Nudismus, ob Theosophie oder freie Liebe – etwas musste sich verändern, es musste Regeln geben, die nicht von Militaristen oder Maschinen diktiert waren. Es war die Suche nach einem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, philosophisch zwischen Rationalismus und konventioneller Religiosität, sozial zwischen Spießermoral und Hedonismus.“ Ein Weg ins Dickicht, der allenfalls in den Frieden von „Kein Ort. Nirgends“ führte, wie Christa Wolf Thomas Morus’ „Utopia“ übersetzt hat.
1908 ist für Blom das Jahr der Frauen, die sich, mindestens 500 000, im Hyde Park versammelten, um ihre Rechte einzuklagen. Es ging, very british, um das Wahl- und Selbstbestimmungsrecht der Frauen. Stellten sie doch in entwickelten Ländern längst auch die Fabrikarbeiterinnen, etwa in der Textilindustrie. Sie wollten heraus aus „Kirche, Küche, Kinder“, griffen das Patriarchat an. Ohne Gewalt ging das nicht. Die Geschichte der Frauenrechtlerinnen ist auch eine von Steinewerfen, Gericht und Gefängnis. In England bekamen Frauen über dreißig erst 1918 das Wahlrecht, gleiches, allgemeines Wahlrecht galt ab 1921. In anderen Ländern sah es nicht viel besser aus. Und noch um 1960 brauchte eine Frau die Einwilligung des Mannes, wollte sie eine Konto-Vollmacht haben – hierzulande. Der Gegenschlag der Männerwelt war zu Beginn des 19. Jahrhunderts kräftig, die Propaganda gegen die „Feministinnen“ probat. Und selbst die Sozialisten setzten eher auf die „Befreiung aller“ als auf die der Frau. Dennoch, so Blom, gab es die Transformation der persönlichen Leben. „Sie produzierte keine neue Religion, keinen Staat und keine Propheten, sondern setzte sich als vages Gefühl in den Köpfen fest und schlüpfte nachts mit den Paaren ins Bett.“
1909: der Kult der Maschine, der in Blériots erster Überquerung des Ärmelkanals in einem Flugzeug (einen lächerlichen Blechgestänge mit Leinwand und Motor) sein Symbol fand. Doch was da ein Einzelner unternahm, hatte in der Wirtschaft unabsehbare Folgen: Flugzeuge oder näherliegend: Autos zu bauen, wurde zu einer Herausforderung an die Industrie, die mit Taylorismus und Fordismus antwortete, die Vereinfachung und Normierung verlangten: Aus dem handwerklichen Arbeiter wurde in „Modern Times“ der Fließband-Bediener. Fords „Tin Lizzy“ wurde zu Hunderttausenden produziert. Wenn aber mehr als ein paar Reiche sich Autos leisten konnten, dann wurde der Kult des einzelnen Rennfahrers immer dringlicher. Autorennen waren Mode. Die Fotografie versuchte, Geschwindigkeit auf die Platte zu bannen, der Futurismus lieferte die künstlerische Begleitmusik. Und das Kino die Bilder. In kürzester Zeit wurde aus dem Jahrmarktspektakel eine mächtige Traumindustrie.
1910 ist für Blom das Jahr, in dem, wie Virginia Woolf später sagte, „das menschliche Wesen sich veränderte“. Es handelt von der neuen Freiheit des Umgangs miteinander (bei den Eliten) und von der bei braven Bürgern so verabscheuten Kunst der Moderne, vom „Kult des Primitiven“, von Kandinsky, Picasso, Braque, von Richard Strauß und Hugo von Hofmannsthals wüster „Elektra“, von Kubin und Klimt, aber auch von des nüchternen Max Weber „Geist des Kapitalismus.“ Blom: „Um verständlich zu machen, was jenseits dieser verkrüppelnden Realität an menschlichen Möglichkeiten bestand, waren Formen notwendig, die außerhalb der christlichen Tradition standen: Nur rohe, dissonante Töne, rigide Masken und subversive Bilder konnten den Panzer der bürgerlichen Persönlichkeit durchbrechen. Das menschliche Wesen sollte nicht verändert, sondern befreit werden.“
Aber das menschliche Wesen trat als Masse auf, so widmet Blom ihm 1911, das Jahr, in dem das „Nickelodeon“ der frühen Flohkinos sich zu riesigen Show- und Kinopalästen aufblies und extravagante Stars wie Sarah Bernhardt und Caruso die Säle füllten. Der fortschrittliche Bürger richtete sich neu ein, in „Jugendstil“ oder „Art Nouveau“ und nahm gar nicht wahr, dass die neuen Kreationen keineswegs handwerklicher Arbeit entstammten wie noch die eichene Anrichte im Salon, sondern der Massenproduktion am Fließband, das im Handel seine Entsprechung im Kaufhaus fand (und im industriellen Schlachten in mechanisierten Fleischfabriken). In diesem Kapitel hat auch der seit Dreyfus virulente Antisemitismus seinen Platz, der seinen Furor aus Neid, Futterneid und Sexualneid, bezog. Derweil die unteren Schichten nicht nur in linken Parteien, sondern auch in Konsumgenossenschaften Schutz suchten. In Amerika gab es die ersten Comics, Bilder anstatt Buchstaben.
1912 fand der erste internationale Eugenik-Kongress in London statt. Die Vererbung begann eine Rolle zu spielen und all die Vorschläge (oft entsetzlich rücksichtslos), die menschliche Spezies – die Rasse – zu verbessern. Wie da Menschenfreunde leichtfertig mit dem Tod des „unwerten Lebens“ umgingen, das kann nur noch uns Nachkommen von Auschwitz (fast) kaltlassen. Und wieder berief man sich auf Nietzsche, den Zarathustra und den Übermenschen. Der Rassenwahn hat viele Ursprünge, die meisten liegen in jenen Jahren. 1913 ist für Blom ein Jahr des Wahnsinns: Am Beispiel des Massenmörders Ernst August Wagner und des milden, gleichwohl verrückten Richters Schreber wird die sexuell grundierten Verwirrung aufgedröselt, werden Lombrosos Theorien des Verbrechens (und seiner Spuren in menschlichen Schädeln) behandelt und tauchen die großen Kriminellen wie Arsène Lupin auf.
1914 ist das Jahr der politischen Morde, der von Henriette Caillaux an ihrem Mann etwa. Franz Ferdinand und Sarajewo kommen nur am Rande vor. Raum und Zeitgefühl wurden ungewiss. „Die grundlegenden Erfahrungen des Lebens – Zeit und Raum, materielle Integrität und persönliche Identität – waren unter dem Druck der Veränderung in sich selbst zusammengefallen; Stämme von Konsumenten ersetzten die Stände von einst, und der Verlust der Authentizität, der Einzigartigkeit und der unhinterfragbaren Stabilität des Ich war fühlbar geworden.“
Das, was Blom den „Taumel“ nennt, hatte mehr ergriffen als nur einige Bürger. Die Massen folgten ihnen in den großen Krieg. Aus der Welt der Vernunft war eine der Unvernunft geworden. „Vielleicht kann man sagen, dass das 20. Jahrhundert in all seinen Schrecken und seiner Größe lediglich die Träume und Alpträume dieser Zeit in die Wirklichkeit übertragen hat.“ Der Zeit zwischen 1900 und 1914. Die Klassenkämpfe spielen bei Blom nur am Rande eine Rolle – sein Blick auf den „taumelnden Kontinent“ versucht sich hineinzuversetzen in eine Welt, wie sie damals vielen, auch den Eliten erschien. Das ist ihm, so scheint es mir, weithin geglückt. Und wir lernen besser, woher wir gekommen sind.
Literaturangabe:
BLOM, PHILIPP: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. Carl Hanser Verlag, München 2009. 528 S., 25,90 €.
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