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Der Denker der Gegenwart

Das „Foucault-Handbuch“ von Kammler/Parr/Schneider (Hrsg.)

© Die Berliner Literaturkritik, 22.10.08

 

STUTTGART (BLK) – Das „Foucault-Handbuch“ wurde im September 2008 von Clemens Kammler, Rolf Parr und Ulrich Johannes Schneider im Metzler Verlag herausgegeben.

Klappentext: Der einflussreichste französische Denker der Gegenwart. Foucaults Werk hat nicht nur die Kultur- und Sozialwissenschaften entscheidend beeinflusst. Das Handbuch gibt einen systematischen Überblick über Foucaults Leben und Werk. Es stellt die Kontexte dar, aus denen heraus seine Werke entstanden sind und erklärt Grundbegriffe des Foucault’schen Denkens wie „Archiv“, „Biopolitik“, „Diskurs“, „Dispositiv“, „Genealogie“, „Körper“ und „Macht“. Mit einem umfangreichen Kapitel zur Rezeption in den verschiedenen Disziplinen.

Clemens Kammler, geb. 1952, ist Professor für Literaturwissenschaft und Didaktik an der Universität Duisburg-Essen. Rolf Parr, geb. 1956, ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft/Literaturdidaktik an der Universität Bielefeld; Mitherausgeber der Reihe „Diskursivitäten“. Ulrich Johannes Schneider, geb. 1956, ist Professor für Philosophie an der Universität Leipzig und Direktor der Universitätsbibliothek Leipzig; Vorsitzender der deutschen Gesellschaft für französischsprachige Philosophie. (bah)

 

Leseprobe:

© Metzler ©

Zur Biographie

Am Ende seines Lebens war Michel Foucault eine öffentliche Figur, nicht nur in Europa, sondern fast überall auf der Welt, und wollte doch unerkannt bleiben und allein durch seine Texte wirken. In einem anonymen Interview hat er 1980 der Sehnsucht nach einer philosophischen Diskussion ohne Ansehen der Person Ausdruck verliehen (DE IV, 128–137) – und zugleich durch die Art der Argumentation sich mehr als deutlich zu erkennen gegeben. Der Schriftsteller und Denker Foucault war darum bemüht, sein persönliches Leben weitgehend privat zu halten, selbst unter dem Druck eines steigenden öffentlichen Interesses. In seinem Denken hat er der Idee der personalen Identität eine entschiedene Absage erteilt. Er wollte nicht „jemand sein“, sondern „ein anderer werden“. Foucaults Lebensumstände zu erzählen und verständlich werden zu lassen, ist daher kaum leichter, als die gedankliche Bewegung in seinem Werk zu protokollieren.

Drei Biographen (Eribon, Macey, Miller) haben Foucaults Leben ausführlich beschrieben, daneben vermitteln eine Reihe von Schilderungen aus der Feder von Freunden wie dem Altphilologen Paul Veyne (1992, 2008) oder dem Schriftsteller Maurice Blanchot (1987) einige Details. Der französische Biograph Didier Eribon gehörte zum Freundeskreis; er hat in zwei Büchern gut recherchierte Essays zur intellektuellen Biographie Foucaults vorgelegt (Eribon 1991, 1998). Aus der Gruppe von Foucaults amerikanischen Beobachtern und Bewunderern stammen die Biographien von David Macey (1993) und James Miller (1995). Miller will Foucault von dessen späten Ideen eines experimentellen Lebens her interpretieren; Macey zeichnet historisch genau die Stationen einer abwechslungsreichen Karriere nach. Nicht lange nach dem Tod Foucaults im Jahr 1984 liegen damit ausführliche Studien zu seinem Lebensweg vor.

Der Ruhm als brillanter Schriftsteller, die Aura des nonkonformen Geistes, das Gewicht seiner philosophischen Einsichten – all das macht Foucault attraktiv und entzieht seine persönliche Geschichte einer nüchternen Betrachtung. Die Tatsache, dass er unbestritten als Meisterdenker gilt, führt die Leser seiner Werke immer wieder über die Textarbeit hinaus und lässt sie fragen, wer dieser Mensch war, der über das „Verschwinden des Menschen“ philosophierte, der trotz einer erfolgreichen intellektuellen und akademischen Karriere danach verlangt, „ein anderer zu werden“. Die Rekapitulation der äußeren Lebensstationen Foucaults – wenig ist verlässlich bezeugt – kann diese Fragen weniger beantworten als vertiefen.

1926–1951

Michel Foucault wurde als Paul-Michel Foucault am 15. Oktober 1926 in eine bürgerliche Familie in Poitiers geboren. Sein Vater, Dr. Paul Foucault, war Arzt und lehrte an der Medizinschule, seine Mutter, geborene Anne Malapert, entstammte ebenfalls einer Familie von Ärzten und brachte eigenes Vermögen in die Ehe mit. Foucault hatte eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder; er wuchs in relativem Wohlstand auf, mit Bediensteten und einer eigenen Landvilla, wo die Familie bis zum Ausbruch des Krieges 1939 regelmäßig die Sommerferien verbrachte. Die Familie war katholisch, allerdings nicht strenggläubig. Während des Krieges blieb die Familie in Poitiers und arrangierte sich mit der von der deutschen Besatzungsarmee geduldeten Regierung des Marschalls Pétain.

Foucault wurde 1930 in das Gymnasium „Henri IV“ in Poitiers eingeschult, zusammen mit seiner älteren Schwester, die er nicht alleine zur Schule gehen lassen wollte, weshalb man ihn vorzeitig einschulte. 1940 wurde Foucault in das Collège Saint-Stanislas umgeschult, eine katholische Schule, weniger streng als das Jesuitengymnasium am Ort. 1943 schloss Foucault die Schule mit überdurchschnittlich guten Noten ab.

Dem Wunsch seines Vaters, die Familientradition der Ärzte fortzusetzen, entsprach Foucault nicht und begann die Vorbereitung auf die Ecole Normale Supérieure (ENS), einen eigentlich zweijährigen, durch den Krieg auf ein Jahr verkürzten Vorbereitungskurs (Khâgne) für das Studium der Human- und Geisteswissenschaften. Weil er die Eingangsprüfung für diese Eliteeinrichtung zunächst nicht schaffte, begann Foucault 1945 in Paris am Gymnasium „Henri IV“ erneut mit dem Vorbereitungskurs. Dort hatte er u.a. den französischen Hegelkenner und Philosophen Jean Hyppolite als Lehrer; einer seiner Prüfer war der Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem. Nach erfolgreich bestandener Eingangsprüfung konnte Foucault 1946 das Studium an der ENS aufnehmen. Die unter Napoleon gegründete Einrichtung feierte damals gerade das 150. Jahr ihres Bestehens.

Studierende an der ENS sind in Frankreich als Staatsstipendiaten privilegiert und werden als die besten Lehrer des ganzen Landes ausgebildet. Berühmte Absolventen waren etwa Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, zwanzig Jahre vor Foucault. Dieser hatte als Lehrer u. a. den marxistischen Philosophen Louis Althusser. Foucault galt als fleißiger Student, aber psychisch waren es wohl schwere Jahre, wie Freunde berichteten; von Depressionen ist die Rede; auch Selbstmordversuche sind bezeugt. Foucault begab sich verschiedentlich in medizinische Behandlung. Nach einem gescheiterten Versuch 1950 schloss er 1951 sein Studium mit der Agrégation im Fach Philosophie ab. Schwerpunkt seiner Ausbildung war die Psychologie, gefördert u.a. durch seinen engen Kontakt mit Daniel Lagache, der das Fach an der ENS 1947 eingeführt hatte. Durch Vermittlung von Althusser scheint Foucault Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs geworden zu sein, was er später leugnete und jedenfalls nie aktiv umgesetzt hat.

1952–1960

Im Oktober 1952 bekam Foucault eine Stelle als Assistenzprofessor für Psychologie an der Universität in Lille. Er wohnte weiterhin in Paris und verbrachte nur zwei bis drei Tage in der Woche im 250 km entfernten Arbeitsort, wo er im Hotel übernachtete. Zu Foucaults Interessen gehörten Literatur und Musik, mit deren wichtigsten jungen Vertretern, Pierre Boulez und Jean Barraqué, war er befreundet. Über persönliche Kontakte erhielt Foucault Kenntnis von Ludwig Binswangers Werk; es sollte der Gegenstand seiner ersten Veröffentlichung ein. Der Schweizer Psychoanalytiker Binswanger war der Begründer der „Daseinsanalyse“, einer existentialistischen Psychotherapie mit Anlehnung an Martin Heideggers Philosophie.

Foucault kam allerdings schnell von diesen Ansätzen ab. Später hat er seine frühen Schriften, darunter ein historischer Überblick über die Geschichte der Psychologie zwischen 1850 und 1950 (DE I, 175–195), nicht als eigene Werke gelten lassen wollen, sich jedenfalls nicht mehr darauf bezogen. Das gilt auch für das Buch über Geisteskrankheit und Persönlichkeit, das 1954 erschien, neu überarbeitet als Geisteskrankheit und Psychologie 1962 (F 1968).

Als vielfach interessierter und interdisziplinärneugieriger Denker war Foucault ein ‚Netzwerker’, der sich seine geistigen wie seine persönlichen Allianzen selber schmiedete. Von zentraler Bedeutung war die Begegnung mit dem Religionsphilosophen Georges Dumézil, denn sie brachte eine berufliche Wende: Foucault verließ Frankreich und leitete ab August 1955 das französische Kulturinstitut im schwedischen Uppsala. Dieser Wechsel ist bis heute unter französischen Akademikern nicht unüblich: Man fördert die eigenen Aussichten im Wissenschaftsbetrieb durch Übernahme halb administrativer, halb wissenschaftlicher Aufgaben an Einrichtungen Frankreichs im Ausland. Später sagte Foucault, er habe die Abwechslung gesucht und darum Frankreich gerne verlassen (Macey 1993, 72 f.).

Wir wissen jedenfalls, dass Foucault seine gleich nach Studienabschluss begonnenen Forschungen zur Geschichte des Wahnsinns und der Unvernunft intensivierte, auch wenn er nur in den Sommermonaten Pariser Bibliotheken nutzen konnte. In Schweden versuchte Foucault sogar, eine erste Fassung von dem, was später Wahnsinn und Gesellschaft (1961) werden würde, als akademische Qualifikationsarbeit einzureichen, wurde aber abgelehnt.

Die offiziellen Aufgaben in Uppsala bestanden vor allem im Unterricht an der Universität, der Literatur und Kultur Frankreichs allgemein betraf. 1958 stand ein neuer Wechsel an, als Foucault zum Leiter des Frankreichzentrums der Universität in Warschau ernannt wurde, wieder um durch Dumézil vermittelt. Auch in Warschau unterrichtete Foucault die volle Breite französischer Kultur, war zugleich stärker in die politische Arbeit des französischen Außenministeriums eingebunden. Gute Kontakte dorthin halfen ihm, nachdem eine homosexuelle Affäre ruchbar geworden war, Polen und die „Unterdrückungsgewalt der Kommunistischen Partei“ (Macey 1993, 86f.) vorzeitig zu verlassen. Man bot ihm das französische Kulturinstitut in Hamburg an. Neben den auch dort üblichen Lehrverpflichtungen arbeitete er weiter an seinem ersten großen Werk. Foucault kehrte im Herbst 1960 nach Frankreich zurück: ein knapp 34-jähriger, weit gereister und bereits vielfältig erfahrener brillanter Kopf mit einer enormen Arbeitsdisziplin

© Metzler ©

Literaturangaben:
KAMMLER, CLEMENS/PARR, ROLF/SCHNEIDER, ULRICH J. (Hrsg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Elke Reinhart Becker. Metzler Verlag, Stuttgart 2008. 454 S., 49,95 €.

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