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Der „eigentliche Meister“

Vargas Llosa über einen anderen großen Autoren Lateinamerikas: Juan Carlos Onetti

© Die Berliner Literaturkritik, 12.10.10

FRANKFURT/ MAIN (BLK) - „Die Welt des Juan Carlos Onetti: Ein Essay“ ist im Mai 2009 im Suhrkamp Verlag erschienen. Angelica Ammar hat den Essayband des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa aus dem Spanischen übersetzt.

Klappentext: Mario Vargas Llosa gehört zu den frühen Lesern Onettis; bereits 1967 hat er emphatisch auf ihn als den „eigentlichen Meister“ hingewiesen. Seine lebenslange Faszination hat er in diesem Essay mit der ihm eigenen Klarheit dargelegt, als Gang durch Leben und Werk des großen Autors aus Lateinamerika. Er schreibt über Onettis Erzählkosmos Santa María, sein Verhältnis zu Roberto Arlt, den Einfluß von Faulkner und Céline, die ambivalenten Bezüge zwischen der Literatur Borges' und Onettis. Vargas Llosa taucht ein in das Werk Onettis und zeigt, auf welch subtile und zugleich kraftvolle Weise dort die parallele Welt dargestellt wird, die die Menschen sich neben dem faktischen Leben schaffen. Seine Bewunderung resümiert Vargas Llosa so: „Das ist das Geheimnis des geglückten künstlerischen Werkes: Wir genießen: leidend, werden verführt und bezaubert, während es uns eintaucht in das Böse, das Grauen. Diese paradoxe Metamorphose ist den wahren Schöpfern vorbehalten, deren Werke sich über Zeit und Raum ihres Entstehens hinwegsetzen. Onetti war einer von ihnen.“

Mario Vargas Llosa wurde im März 1936 in Arequipa, Südperu geboren. Nach dem Schulabschluss begann Vargas Llosa in Lima gleichzeitig ein Jura- und Literaturstudium. Erstes Aufsehen als Schriftsteller erregte Vargas Llosa mit dem Roman „Die Stadt und die Hunde“. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit engagierte sie Vargas Llosa auch politisch. 1990 bewarb sich der liberale Vargas Llosa um das peruanische Präsidentenamt. Nach seiner Wahlniederlage widmete er sich wieder vermehrt der Schriftstellerei. 1993 nahm er die spanische Staatsbürgerschaft an. In diesem Jahr wurde ihm der Literaturnobelpreis zugesprochen. Vargas Llosa lebt zur Zeit in London.

Leseprobe:



 ©Suhrkamp Verlag©


Eine Reise in die Imagination

Begeben wir uns zurück in eine Welt, die so alt ist, daß die Wissenschaft sie noch nicht erfaßt, oder wenn, nicht überzeugend erfaßt, weil ihre Thesen und Spekulationen so willkürlich und vage sind wie Phantasie und Imagination. 
 Man könnte sagen, die Zeit existiert hier noch nicht. Es gibt noch keinen der Bezüge, die ihren Verlauf markieren, und die Lebewesen haben kein Bewußtsein von ihrem Vergehen, von Vergangenheit und Zukunft, nicht einmal vom Tod, so gefangen sind sie in einer ewigen Gegenwart, die sie daran hindert, das Vorher und Nachher zu sehen. Die Gegenwart absorbiert sie so vollkommen mit ihrer Notwendigkeit, in der Weite der Welt zu überleben, daß das Jetzt, der augenblickliche Moment, ihr Dasein ganz und gar einnimmt. Der Mensch ist kein Tier mehr, aber es wäre übertrieben, ihn schon menschlich zu nennen. Er steht aufrecht auf seinen hinteren Extremitäten und hat begonnen, Laute von sich zu geben, zu grummeln, zu pfeifen, zu jaulen, und dazu zu gestikulieren und Grimassen zu ziehen, womit die Basis für eine Kommunikation innerhalb der Horde gegeben ist, der er angehört, hervorgegangen aus jenem animalischen Instinkt, der ihn momentan noch das Wichtigste lehrt, was er wissen muß: Das, was unverzichtbar ist für ein Überleben inmitten der unzähligen Bedrohungen und Gefahren in dieser Welt, in der alles – wilde Tiere, Blitz, Wasser, Dürre, Schlangen, Insekten, die Nacht, Hunger, Krankheit und andere Zweibeiner wie er – verschworen scheint, um ihm den Garaus zu machen.
 Sein Überlebensinstinkt hat ihn dazu gebracht, sich der Horde anzuschließen, in der er sich besser verteidigen kann, als wäre er sich selbst überlassen. Aber diese Horde ist keine Gesellschaft, sie gleicht noch eher einer Herde, Meute, einem Bienenschwarm als dem, was wir Jahrhunderte später eine menschliche Gemeinschaft nennen werden. 
 Nackt oder,wenn die Unbilden des Klimas es erfordern, in Pelze gehüllt, befinden sich diese Rudel von Protomenschen in ständiger Bewegung, ziehen zum Jagen und Sammeln unablässig umher auf der Suche nach unberührten Landstrichen, um Nahrung zu finden, die sie der Natur entnehmen, ohne sie zu ersetzen, wie es die Tiere tun, diese große Gemeinschaft, der sie immer noch angehören, von der sie sich erst langsam abzulösen beginnen. 
 Nebeneinander zu leben heißt noch nicht, zusammenzuleben. Letzteres setzt ein ausgefeiltes Kommunikationssystem voraus, ein kollektives, geteiltes Schicksal, das auf gemeinsamen Nennern wie Sprache, Glauben, Riten, Körperverzierungen und Bräuchen basiert. Nichts von all dem existiert bislang – noch haben wir es mit dem nackten Überleben zu tun, mit Impulsen und Affekten, die der Logik vorangehen und diese halben Tiere dazu gebracht haben, anstatt ihrer fehlenden Krallen, Reißzähne, Hörner oder Giftdrüsen und anderen Verteidigungsmechanismen, über die die übrigen Lebewesen verfügen, nach Schiefern oder Kieseln zu greifen, in der Gruppe zu jagen, zu schlafen und den Ort zu wechseln, um sich gegenseitig zu beschützen und die Angst zu nehmen.
 Denn zweifellos hat die tägliche Erfahrung bewirkt, daß sich in diesem ersten Menschen von allen noch schlummernden Emotionen, Begierden, Instinkten und Leidenschaften beim Erwachen ins Dasein als erstes die Angst entwickelte. 
 Die Panik vor dem Unbekannten, und so gut wie alles ihn Umgebende ist unbekannt, das Rätsel der Dunkelheit und das Rätsel des Lichts, und ob die Himmelskörper, die dort oben am Firmament schweben, nicht geflügelte, mörderische Bestien sind, die plötzlich über ihn herfallen könnten. Welche Gefahren birgt der schwarze Schlund der Höhle, in die er gern vor dem Regenguß flüchten würde, oder die tiefen Gewässer der Lagune, über die er sich zum Trinken beugt, oder der Wald, in den er sich auf der Suche nach Nahrung und einem Schlupfwinkel begibt? Die Welt ist voller Überraschungen, und für ihn sind fast alle Überraschungen tödlich: der Biß einer Klapperschlange, die sich im Gras an seine Füße geschlängelt hat, der Blitz, der das Gewitter erhellt und Bäume in Brand setzt, oder die plötzlich zu beben beginnende Erde, die sich dröhnend in Klüfte spaltet und ihn zu verschlingen droht. Mißtrauen,Unsicherheit, Argwohn gegen alles und jeden ist seine natürliche Grundhaltung, von der ihn nur für kurze Momente seine Instinkte befreien, die er mit Schlaf, Koitus, Essen oder Defäkieren befriedigt.Träumt er bereits? Wenn, dann dürften seine Träume so wild und primitiv sein wie sein Leben, die unaufhörliche Geschäftigkeit spiegeln, mit der er sich Nahrung beschafft und tötet, um nicht selbst getötet zu werden.



©Suhrkamp Verlag©


Literaturangabe:
VARGAS LLOSA, MARIO: Die Welt des Juan Carlos Onetti: Ein Essay. Aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main 2009. 220 S., 24,80 €.

Weblink
Suhrkamp Verlag


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