Werbung

Werbung

Werbung

„Der Fremde als Nachbar“

Eine Anthologie von Autoren über sozial-politische Hintergründe

© Die Berliner Literaturkritik, 20.11.09

FRANKFURT AM MAIN (BLK) –  „Der Fremde als Nachbar“ von François Guesnet wurde im November 2009 vom Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Aus dem Polnischen übersetzt von Jan Conrad, Michael G. Esch, Bernhard Hartmann, Jürgen Heyde, Peter Oliver Loew, Bettina-Dorothee Mecke, Sven Sellmer und Andreas Volk.

Klappentext: „Mit ihnen ist es schwierig - ohne sie ist es langweilig.“ So brachte die gebildete polnische Gesellschaft das polnisch-jüdische Verhältnis in den 1930er Jahren auf den Punkt. Der vorliegende Band zeichnet die Wahrnehmung der jüdischen Präsenz in Polen aus nichtjüdischer Perspektive in Haupt- und Nebenlinien über 200 Jahre nach. Abgesehen von Stimmen, die für Verständnis und Miteinander werben, kommen auch eher skeptische Autoren zu Wort. Die Texte zeigen, wie leidenschaftlich in Polen über die jüdische Nachbarschaft diskutiert wurde. Schließlich waren in Polen die lebensweltlichen Begegnungen mit Juden meist sehr viel intensiver, als dies in anderen europäischen Regionen der Fall gewesen ist. Die sozialen, politischen und kulturellen Hintergründe der in dieser Anthologie vertretenen Autoren sind denkbar weit gestreut. Sie gehören dem Adel, der Kirche, dem Bürgertum, den verschiedenen politischen Bewegungen an, viele setzten sich in den mehr als hundert Jahren, in denen Polen geteilt war, für seine Unabhängigkeit ein, sie waren Journalisten, Schriftsteller und Pädagogen, Angehörige der Verwaltungs- und Bildungseliten, beteiligten sich am Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg, sind Angehörige der Emigration und der Opposition - und einer war Papst.

François Guesnet studierte osteuropäische Geschichte, Romanistik und Slavistik in Köln, Warschau, Berlin und Freiburg, wo er 1996 in Neuerer und Neuester Geschichte promovierte. Zwischen 1996 und 2002 forschte er am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Zahlreiche Stipendien, Fellowships und Forschungsaufenthalte führten ihn u.a. nach Warschau, London, Jerusalem und Philadelphia. Zur Zeit ist François Guesnet Gastprofessor für Historische Kultursoziologie an der Universität Potsdam. Er ist Autor von Lodzer Juden im 19. Jahrhundert. (olb)

Leseprobe:

©Suhrkamp Verlag©

Eine Anekdote zur Einführung. Es war zu Beginn der neunziger Jahre, in einem Zug von Warschau nach Lodz, in einem vollbesetzten Abteil der zweiten Klasse mit acht Sitzen. Mit einem Freund und Kollegen, der gleichfalls an einer historischen Untersuchung zur jüdischen Geschichte in Polen arbeitete, war ich zu einem weiteren Forschungsaufenthalt am Staatlichen Archiv in Lodz aufgebrochen, einem Archiv mit besonders reichhaltigen und wenig bearbeiteten Beständen zur lokalen jüdischen Geschichte. Relativ schnell kam mit den übrigen Reisegästen, die im fortgeschrittenen Erwachsenenalter waren und uns Archivreisende ohne größere Mühe als Gäste aus dem Ausland identifiziert hatten, ein Gespräch zustande. Die Auskunft, dass wir uns beide mit der Geschichte der Juden in Lodz befassten, bestimmte den weiteren Verlauf des Gesprächs, an dessen Einzelheiten ich mich heute kaum noch erinnere, es sei denn an die enorme Mitteilungsbereitschaft der Mitreisenden: Kindheitserinnerungen an den Krieg oder Erzählungen der Eltern hieran und an das Schicksal jüdischer Spielkameraden, Nachbarn und Bekannter, Anekdoten über sinnlos aufgehackte Fußböden auf der Suche nach vermuteten Schätzen der Ermordeten und Geflohenen bestimmten die Unterhaltung. Die Reise von Warschau nach Lodz ist nicht lang, und das Gespräch war im schönsten Schwung, als wir Reisende realisierten, dass der Zug bereits seit einigen Momenten im Kopfbahnhof Lodz-Fabryczna angekommen war und sich bereits beträchtlich geleert hatte: die Ankunft selbst war allen entgangen. Nach raschem Abschied begaben wir zwei Berliner Historiker uns zur Jugendherberge in der Zamenhof-Straße im Lodzer Stadtzentrum, wo wir für die Zeit des Forschungsaufenthaltes logierten. Der Namenspatron der Straße, der Erfinder des Esperanto Ludwik Zamenhof (1859-1917), war einer jener jüdischen Zuwanderer aus dem Russischen Reich, die seit dem späten 19. Jahrhundert als ›Litwaken‹ zu einem zentralen lieu de m´emoire des polnisch-jüdischen Verhältnisses wurden und die in einer Reihe der in diesem Band dokumentierten Texte thematisiert werden. Für die Autoren und Autorinnen fungierten die ›Litwaken‹ meist als Projektionsfläche von angenommenen und tatsächlichen Identitäten, politischen Strategien und Zielsetzungen. Aus den Akten, die ich während meiner Forschungsaufenthalte im Lodzer Archiv durchsah, traten mir die ›Litwaken‹ gleichfalls entgegen: als Versicherungsvertreter, Unternehmer, Handelsreisende, schließlich auch sozialrevolutionäre Agitatoren, die um 1900 die Lodzer Arbeiterschaft und die jüdischen proletarisierten Weber zu mobilisieren suchten. Sie bildeten aber nur einen kleinen Ausschnitt aus der Lebenswelt der Lodzer Juden und Jüdinnen, die, zusammen mit Deutschen und Polen, das Gesicht dieser Industriemetropole prägten. Selbst im demographisch so dynamischen 19. Jahrhundert gab es nur wenige Städte, die eine so atemberaubende Entwicklung durchmachten, und es gibt in der Geschichte nur wenige jüdische Gemeinden, die im Verlauf von nur drei Generationen von weniger als einhundert Seelen auf eine jüdische Metropole von einhunderttausend Menschen anwuchsen – eine Entwicklung, die sich in den Tausenden und Abertausenden von Akten im Staatlichen Archiv zu Lodz in einzigartiger Weise widerspiegelt. Zu dieser Entwicklung gehört der Aufstieg einiger Unternehmer zu großem Einfluss und Reichtum, das Elend der jüdischen Handwerker, die der Textilindustrie in Kommission zuarbeiteten und von wirtschaftlicher Stagnation härter und schneller getroffen wurden als nichtjüdische Fabrikarbeiter, die Konkurrenz unter den ungezählten jüdischen Lehrern und Lehrerinnen, die in der Hoffnung aus den Kleinstädten in die entstehende Metropole kamen, den Nachwuchs der nach Lodz strömenden Familien unterrichten zu können, die Agitation einer hochpolitisierten russisch jüddischen Intelligenzja, aber auch die Eröffnung von vielen Hundert Gebetsstuben und Gotteshäusern, die nur im Ausnahmefall selbständige Gebäude, häufig jedoch in Gewerbeetagen und Werkstätten eingerichtete Orte des Gebets waren. In einer tausendseitigen Polizeiakte fanden sich Aussagen von jüdischen Fischhändlern, die sich gegen die Machenschaften einer mit Mafiamethoden arbeitenden Gruppe von jüdischen Großhändlern zur Wehr setzen mussten.

©Suhrkamp Verlag©

Literaturangabe:

Guesnet, François: Der Fremde als Nachbar. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 681 S., 39,80 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: