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Der große indische Hühnerkäfig

Aravind Adigas „Der weiße Tiger“ erhält den Booker Prize 2008

© Die Berliner Literaturkritik, 23.04.09

 

„Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, weder Sie noch ich sprechen Englisch, aber manche Dinge kann man nur auf Englisch sagen ...“ So beginnt die erste nächtliche E-Mail, gerichtet an „Seine Exzellenz Wen Jiabao, Büro des Ministerpräsidenten, Peking, Hauptstadt der freiheitsliebenden Nation China“. Absender ist ein gewisser Balram Halwai alias Munna, ein Mörder und Unternehmer, wohnhaft in der Welthauptstadt von Computertechnologie und Outsourcing, Bangalore. Sieben weitere Mails werden folgen, jeweils geschrieben in den Stunden um Mitternacht, in einem 15-qm-Büro, beim kreisenden Licht eines Kronleuchters.

Mr. Jiabao werde in den nächsten Tagen Bangalore besuchen, so hieß es im Radio, um indische Unternehmer zu treffen und deren Erfolgsgeschichten in ihren eigenen Worten zu hören. Nun, wer könnte da besser die Wahrheit berichten als er, „der weiße Tiger“? Als „ein Denker und Unternehmer“, so verkündet der Ich-Erzähler großmäulig, biete er dem chinesischen Ministerpräsidenten ohne Gegenleistung die Wahrheit über Bangalore, aus „Respekt vor der Freiheitsliebe des chinesischen Volkes und im Glauben daran, dass die Zukunft der Welt bei Menschen gelber und brauner Hautfarbe liegt“.

Balram Halwai wird Mr. Jiabao (und damit uns) seine Geschichte erzählen, die des jungen Munna aus dem Dorf Laxmangarh im Bezirk Gaya, Sohn des Rikschafahrers Vikram Halwai. Er wird berichten, wie er als Aushilfsfahrer engagiert wurde vom reichsten Mann am Ort, wie er nach Delhi gelangt, dort eine durchweg korrupte Gesellschaft kennen lernt – und seine indischen Herren mit ihrer Jagd nach Geld, Luxus und Macht. Balram Halwai, der Underdog aus der indischen Provinz, wird seinen Herrn, Mr. Ashok, samt Ehefrau Pinky Madam im Honda City artig durch die Gegend kutschieren, er wird ihnen ergeben dienen und schließlich Mr. Ashok die Kehle abschnüren. Und er wird uns sagen, was sich so nur auf Englisch sagen lässt: „What a fucking joke!“

„Der weiße Tiger“ schockiert, provoziert – und fasziniert. In Form einer aberwitzigen E-Mail erreicht uns der grandiose Erstlingsroman von Aravind Adiga, 1974 in Madras geboren, aufgewachsen in Indien und Australien und derzeit in Mumbai lebend. Dem knapp 35-Jährigen, der Englische Literatur an der Columbia University und am Magdalen College in Oxford studierte und als Korrespondent für die Zeitschrift „Time“ und „Financial Times“ arbeitete, gelang, wovon andere träumen: Sein Debüt „The White Tiger“ wurde 2008 mit dem begehrten Booker Prize bedacht, der renommiertesten Auszeichnung der britischen Literaturbetriebs. Balram Halwais über 300 Seiten lange Mail, „die Autobiografie eines halb garen Inders“, wurde bisher in mehr als 16 Sprachen übersetzt, so auch jetzt von Ingo Herzke ins Deutsche.

Adigas Erstling zeigt uns die zwei Gesichter Indiens, die konträrer nicht sein könnten: Die aufstrebende Hightechnation, die nach China am stärksten expandierende Volkswirtschaft, ist ein Land krassester Gegensätze. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes leben 28 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1 US-Dollar täglich, 50 Prozent von maximal 2 US-Dollar am Tag. Die Analphabetenquote beträgt 35 Prozent. Das Elendsviertel Dahravi in Mumbai (Schauplatz des Oscar-prämierten Films „Slumdog Millionär“) gilt mit einer Million Einwohnern als größter Slum Asiens. Die größte Armut herrscht auf dem Land, wo 70 Prozent der Bevölkerung leben. Dort, wie in Balram Halwais Heimatdorf Laxmangarh, stagniert das Realeinkommen – bestenfalls.

Armut, Kinderarbeit, Gewalt und Willkür – Munna alias der weiße Tiger schildert sein Aufwachsen im „großen indischen Hühnerkäfig“, wo die „Großen Tiere“, die Grundbesitzer, das Sagen haben: der Rabe, der Büffel, der Keiler und der Storch, Mr. Ashoks Vater. Seine Erziehung macht ihn, wie Millionen andere, zum „halb garen Inder“, er besucht die Schule zwei, drei Jahre, erwirbt ein nur bruchstückhaftes Wissen, weil er früh beitragen muss zum Einkommen der Familie. Diese hat einen Kredit aufgenommen beim Storch, damit sie eine prächtige Hochzeit ausrichten und die Mitgift einer Cousine aufbringen kann. Munna alias Balram Halwai wischt also im noch schulpflichtigen Alter die Tische im Teehaus, knackt Kohlen, verdingt sich als billige Arbeitskraft.

Lebt es sich besser in der Villa des Storchs, als Feldmaus, sprich: Fahrer Nummer zwei für Mr. Ashok und Pinky Madam? Wohl kaum: Er fegt den Innenhof, massiert abends die krampfadergeplagten Beine des Storchs, badet Cuddles und Puddles, die beiden Spitze, und fährt mindestens einmal pro Woche mit dem ersten Diener des Hauses zum Spirituosenladen, um ausländischen Whisky für seine Herren zu besorgen. Sonst steht er stand-by, auf Abruf bereit zu Fahrten in die Mall, zur Bank, zu Ministerien. Denn die Familie des Storchs schmiert Regierungsbeamte, es geht um Geld, viel Geld, um Steuerhinterziehung und Kohlenklau im großen Maßstab. Auf dem Rücksitz des Honda City liegt wie so oft die rote Tasche mit Hunderttausenden Rupien, fettes Bestechungsgeld, doch genug für einen bescheidenen Neuanfang Balrams, ein Leben außerhalb des Hühnerkäfigs.

Was würde geschehen, wenn zum Beispiel ein Fahrer das Geld seines Herrn nähme und damit durchbrennte?, fragt sich Balram wiederholt und weiß genau: Das könnte nur ein Mann, der bereit ist, seine Familie vernichtet zu sehen, kein normaler Mensch, sondern ein Abartiger, ein Anormaler, eine Laune der Natur. „Dazu brauchte es sozusagen einen Weißen Tiger.“ „Es ist so“, philosophiert der Denker Balram Halwai, „als unsere Nation die reichste der Welt war, in den Zeiten ihrer Größe, da war das Land wie ein Zoo. Ein sauberer, gepflegter, ordentlicher Zoo (...) und dann waren dank dieser Politiker in Delhi am 15. August 1947 – am Tag, als die Briten abzogen – die Käfigtüren aufgelassen worden; die Tiere waren einander an die Kehle gegangen, hatten sich in Stücke gerissen, statt der Zooregeln herrschte das Gesetz des Dschungels (...)“

Er wird es tun: Mr. Ashok unter einem Vorwand aus dem Honda City locken, ihn niederknien lassen, um die Reifen zu prüfen –, und eine gute, solide Flasche Johnny Walker Black Label mehrfach auf dessen Schädel schlagen. Danach wird Balram Halwai seinen Herrn auf den Rücken drehen und mit einem Fingerdruck Mr. Ashoks Atem für immer stoppen. Balram Halwai – ein kaltblütiges Ungeheuer? Das Erstaunliche ist, wir fühlen mit ihm, nehmen seine Rechtfertigungen an, folgen wohlwollend dieser amoralischen Erfolgsgeschichte des weißen Tigers bis in sein 15-qm-Apartment in Bangalore. Von hier aus dirigiert er sein Start-up: einen Fahrdienst für ansässige Callcenter, mit einer Wagenflotte von 26 Toyota Qualis samt angestellter Fahrer.

Der Jury-Vorsitzende Michael Portillo sagte bei der Verleihung des Booker Prize 2008, Adigas Roman „schockiere und unterhalte gleichzeitig“. Damit bringt er es auf den Punkt. Der Autor, so Portillo weiter, stelle sich der großen Herausforderung, die Sympathie des Lesers für einen ausgemachten Halunken zu wecken und zu halten. Hierin liegt die große Kunst des Aravind Adiga: dringliche soziale Probleme seines Landes aufzugreifen und sie respektlos aus der Sicht eines moralisch fragwürdigen Balram Halwai zu schildern. „Der weiße Tiger“ reißt die großen sozialen Wunden Indiens auf, er legt die zum Himmel schreienden Bruchstellen einer Gesellschaft bloß – und er tut dies fesselnd, provozierend und mit sprühendem Witz.

Literaturangaben:
ADIGA, ARAVIND: Der weiße Tiger. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag C. H. Beck, München 2008. 319 S., 19,90 €.

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