MÜNCHEN (BLK) – Im April 2009 ist bei Blessing „Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet“ von Christopher Hitchens erschienen.
Klappentext: Welche Rolle darf Religion heutzutage spielen? Keine – wenn es nach Christopher Hitchens geht. Schon gar keine Sonderrolle, dazu ist unsere Welt zu klein geworden. In seiner Streitschrift legt er eloquent und provokant dar, dass die Rückkehr zum Glauben – ob als archaische Staatsdoktrin oder vermeintlich modernes Sinnstiftungsangebot für den Privatgebrauch – in eine gefährliche Sackgasse führt.
Eine gute Welt, so empfand es Bertrand Russell 1927 in seinem grundlegenden Vortrag „Warum ich kein Christ bin“, brauche keine Fesselung der freien Intelligenz durch Worte, die vor langer Zeit von unwissenden Männern gesprochen wurden. Sie brauche einen furchtlosen Ausblick auf die Zukunft. Achtzig Jahre später hat sich Christopher Hitchens in der Welt umgesehen. Sein Bericht: Nach wie vor lehren die Religionen auf allen Erdteilen das Fürchten, stehen als Quell von Intoleranz, Sexismus, Siechtum, Gewalt und körperlichem wie seelischem Missbrauch einem menschenwürdigen Zusammenleben im Wege. Und selten stand die Zukunft so in ihrem Bann wie jetzt. Mit seinem polemischen Rundumschlag beleuchtet Hitchens Entstehung, Verbreitung und Wirkung diverser Glaubensgemeinschaften – von Cargo-Kult bis Christenheit – und macht deutlich, wie stark und unheilvoll ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft gerade heute ist.
Christopher Hitchens, geboren 1949 im englischen Portsmouth, ist als Buchautor, Journalist und Literaturkritiker tätig. Er schreibt regelmäßig u.a. für „The Nation“, „Vanity Fair“ und das „Wall Street Journal“. Heute lebt er in Washington. (ber/mül)
Leseprobe:
©Blessing©
Kapitel eins
Gelinde gesagt
Sollte der Leser dieses Buches nicht nur mit dem Autor uneins sein, sondern darüber hinaus auch noch festmachen wollen, welche Missetaten und Fehlentwicklungen ihn wohl zum Schreiben dieses Buches veranlasst haben – meiner Erfahrung nach das übliche Vorgehen derer, die öffentlich für Wohltätigkeit, Mitleid und Vergebung eintreten –, so bringt ihn das nicht nur in Konflikt mit dem unergründlichen und unbeschreiblichen Schöpfer, der mich schuf, wie ich bin, nein, er besudelt auch das Andenken an eine gute, aufrichtige und einfache Frau starken und standhaften Glaubens: Mrs. Watts.
Als ich mit etwa neun Jahren eine Schule am Rande des Dartmoor im Südwesten Englands besuchte, war es Mrs. Watts’ Aufgabe, mich in Fragen der Natur und der Heiligen Schrift zu unterrichten. Sie unternahm mit meinen Schulkameraden und mir Wanderungen in einen besonders herrlichen Teil meines wunderschönen Heimatlandes und brachte uns bei, die verschiedenen Vögel, Bäume und Pflanzen zu bestimmen. Die fantastische Vielfalt in einer Hecke, das Wunder eines Vogelgeleges in einem kunstvoll erbauten Nest, der allseits verfügbare Sauerampfer, mit dem wir uns Linderung verschafften, wenn wir mit den Beinen in die Brennnesseln geraten waren (wir hatten kurze Hosen zu tragen) – all das ist mir ebenso in Erinnerung geblieben wie das Wildhegemuseum, in dem die örtlichen Bauern tote Ratten, Wiesel, Ungeziefer und Raubtiere ausstellten, die von einer weniger freundlichen Gottheit erschaffen worden sein mussten. Wer zufällig John Clares unvergängliche bäuerliche Naturlyrik liest, kann sich ein Bild machen.
Später erhielten wir im Unterricht Zettel mit der Aufschrift: „Suche die Bibelstelle“, die den Schulen von der zuständigen Kultusbehörde zur Verfügung gestellt wurden. Der Religionsunterricht war, ebenso wie die tägliche Andacht, staatlich verordnet und somit Pflicht. Auf dem Zettel stand ein einzelner Bibelvers aus dem Alten oder Neuen Testament, und wir sollten nun den Vers finden und anschließend unseren Klassenkameraden oder der Lehrerin mündlich oder schriftlich den Sinn oder die Moral der entsprechenden Stelle erläutern. Mir machte diese Übung Spaß, und ich war so gut darin, dass ich (gemeinsam mit Bertie Wooster) im Bibelunterricht oft Klassenbester war. Das war meine erste Begegnung mit der praktischen Textarbeit. Ich las den Kontext rund um den betreffenden Vers, um sicherzugehen, dass ich den „Sinn“ der gesuchten Stelle verstanden hatte. Sehr zum Verdruss einiger meiner Gegner beherrsche ich diese Übung noch heute, und ich habe Hochachtung vor allen, deren Stil gern als „nur“ talmudisch, koranisch oder als „fundamentalistisch“ abgetan wird. Es ist eine gute und notwendige geistige und literarische Übung.
Doch dann kam der Tag, an dem sich die arme, liebe Mrs. Watts übernahm. In dem ehrgeizigen Versuch, ihre beiden Rollen als Biologie-und Bibellehrerin miteinander zu verschmelzen, sagte sie:„Da seht ihr, Kinder, wie mächtig und großzügig Gott ist. Er hat die Bäume und das Gras grün gemacht und damit die Farbe ausgesucht, die auf unsere Augen besonders beruhigend wirkt. Stellt euch mal vor, die Pflanzen wären lila oder orange, wie grässlich das wäre.“
Was hat die fromme alte Seele damit nur angerichtet. Ich mochte Mrs. Watts: Sie war eine liebenswürdige kinderlose Witwe mit einem freundlichen alten Schäferhund, der doch tatsächlich Rover hieß, und nach der Schule lud sie uns auf Süßigkeiten und andere Leckereien in ihr etwas heruntergekommenes altes Häuschen in der Nähe der Eisenbahngleise ein. Wenn der Teufel sie auserwählt hatte, mich vom rechten Wege abzubringen, so war er um einiges findiger als die raffinierte Schlange im Garten Eden. Nie erhob sie die Stimme, nie wendete sie Gewalt an – was man nicht von allen meinen Lehrern behaupten kann –, und sie gehörte zu den Menschen, denen Eliots Roman Middlemarch ein Denkmal setzt, wenn es dort heißt: „… dass es um den Leser und mich nicht so schlecht steht, wie es sein könnte, das verdanken wir zur Hälfte den zahlreichen Menschen, die voll gläubigen Vertrauens ein Leben im Verborgenen geführt haben und in Gräbern ruhen, die kein Mensch besucht“.
Doch für mich waren ihre Worte wie ein Schlag ins Gesicht. Ich schämte mich so für Mrs. Watts, dass sich die Riemchen meiner Sandalen aufrollten. Im Alter von neun Jahren kannte ich weder den teleologischen Gottesbeweis noch das Gegenkonzept der darwinschen Evolutionstheorie oder den Zusammenhang zwischen Fotosynthese und Chlorophyll. Die Geheimnisse des Genoms waren mir damals ebenso verschlossen wie jedem anderen auch. Ich hatte noch keine natürlichen Landschaften zu Gesicht bekommen, die menschen- oder gar lebensfeindlich sind. Gerade so, als verfügte ich über einen Exklusivzugang zu einer höheren Macht, wusste ich einfach, dass meine Lehrerin in nur zwei Sätzen alles vermasselt hatte. Die Augen passen sich der Natur an, nicht andersherum.
Ich weiß nicht mehr genau, wie und in welcher Reihenfolge es nach dieser Epiphanie weiterging, doch recht bald fielen mir weitere Merkwürdigkeiten auf. Wenn Gott der Schöpfer aller Dinge war, warum sollten wir ihn dann unaufhörlich „lobpreisen“ für etwas, das er ganz natürlich von sich aus tat? Das kam mir, gelinde gesagt, servil vor. Wenn Jesus einen Blinden heilen konnte, dem er zufällig begegnete, warum heilte er dann nicht die Blindheit? Was war so wunderbar daran, dass er Teufel austrieb, wenn diese anschließend eine Herde Säue befallen durften? Ich fand das ziemlich düster, eher wie schwarze Magie. Warum zeigte das ständige Beten keine Wirkung? Warum musste ich dauernd öffentlich bekennen, ein elender Sünder zu sein? Warum wirkte das Thema Sex geradezu wie Gift? Diese noch wackligen kindlichen Einwände sind, wie ich festgestellt habe, recht verbreitet, wohl auch deshalb, weil keine Religion befriedigende Antworten darauf parat hat. Doch mir stellte sich noch eine andere, größere Frage – ich sage „mir stellte sich“ und nicht „ich stellte mir“, weil diese Einwände nicht nur unüberwindlich, sondern auch unvermeidlich sind. Der Rektor, der, stets Das Buch in der Hand, die täglichen Gottesdienste und Andachten hielt, war ein kleiner Sadist und ein heimlicher Homosexueller, dem ich indes vergeben habe, weil er mein Interesse für Geschichte weckte und mir meinen ersten Roman von P. G. Wodehouse auslieh. Eines Abends sprach er Klartext mit uns: „Im Moment versteht ihr vielleicht nicht, wofür der Glaube gut ist“, sagte er. „Doch eines Tages, wenn ihr zum ersten Mal einen geliebten Angehörigen verliert, wird sich das ändern.“
Wieder erfassten mich tiefste Entrüstung und schierer Unglaube. Das hieß doch so viel wie: Vielleicht ist die Religion ja gar nicht wahr. Aber macht euch nichts draus, denn zumindest spendet sie euch Trost. Wie abscheulich. Ich war damals fast dreizehn und entwickelte mich zu einem unerträglichen kleinen Besserwisser. Obwohl ich noch nie von Sigmund Freud gehört hatte – der mir durchaus hätte helfen können, meinen Rektor zu verstehen –, war mir soeben eine praktische Umsetzung seines Essays „Die Zukunft derIllusion“ zuteil geworden.
Diese Kindheitsgeschichten nötige ich meinen Lesern auf, um deutlich zu machen, dass ich nicht zu denen gehöre, deren intakter Glaube durch Kindesmissbrauch oder brutale Indoktrination zerstört wurde. Millionen von Menschen mussten das erdulden, und den Religionen kann und sollte man meines Erachtens keine Absolution dafür erteilen, dass sie solches Elend über die Menschen bringen. Erst in jüngster Vergangenheit haben wir erlebt, wie sich die katholische Kirche kompromittierte, indem sie gemeinsame Sache mit der unverzeihlichen Sünde des Kindesmissbrauchs machte. Allerdings haben auch nichtreligiöse Institutionen ähnliche, wenn nicht noch schlimmere Verbrechen begangen.
Trotzdem bleiben vier Einwände gegen den religiösen Glauben bestehen: Er stellt die Ursprünge des Menschen und des Universums völlig falsch dar, er verbindet infolge dieses Irrtums ein Höchstmaß an Unterwürfigkeit mit einem Höchstmaß an Solipsismus, er ist Folge und Ursache einer gefährlichen sexuellen Repression, und er fußt letzten Endes auf Wunschdenken.
Ich glaube, es ist nicht arrogant, wenn ich behaupte, dass ich diese vier Einwände entdeckte, ehe ich in den Stimmbruch kam. Dazu gesellte sich die banale Erkenntnis, dass sich weltliche Machthaber mithilfe der Religion gern Autorität verschaffen. Ich bin mir sicher, dass Millionen anderer Menschen auf sehr ähnlichem Wege zu vergleichbaren Schlüssen kommen, und bin an Hunderten von Orten in Dutzenden von Ländern solchen Menschen begegnet. Viele von ihnen waren nie gläubig, viele büßten ihren Glauben nach hartem Kampf ein. Manch einer erlebte schmerzhafte Momente desZweifels, die so unvermittelt kamen wie bei Saulus von Tharsus auf der Straße vor Damaskus, wenn sie auch womöglich weniger epileptisch und apokalyptisch auftraten und später rationaler und moralisch fundierter begründet wurden. Und genau das zeichnet mich und Gleichgesinnte aus. Unser Glaube ist kein Glaube. Auch unsere Prinzipien sind kein Glaube. Wir verlassen uns nicht ausschließlich auf Naturwissenschaften und Vernunft, denn die sind zwar notwendig, aber nicht erschöpfend. Allerdings misstrauen wir allem, was Wissenschaft und Vernunft widerspricht. Hier und da sind wir uneinig, doch wir achten die freie Forschung, die geistige Offenheit und die Beschäftigung mit Ideen um ihrer selbst willen. Wir halten nicht dogmatisch an Überzeugungen fest: Die Meinungsverschiedenheit zwischen den Professoren Stephen Jay Gould und Richard Dawkins zum „Punktualismus“ und zu den offenen Fragen in der postdarwinschen Theorie ist weitreichend und tief gehend, doch wir werden sie mittels Nachweisen und des Austauschs von Argumenten lösen und nicht durch gegenseitige Exkommunizierung. Auch meine Verärgerung über den Vorschlag der Professoren Dawkins und Dennett, Atheisten sollten sich selbstherrlich den Namen „brights“, „schlaue Köpfe“, geben, ist übrigens Bestandteil einer anhaltenden Auseinandersetzung. Wir sind auch nicht immun gegen die Lockungen des Wunderbaren, Rätselhaften und Ehrfurcht Gebietenden, doch dafür haben wir Musik, Kunst und Literatur: Shakespeare, Tolstoi, Schiller, Dostojewski und George Eliot verarbeiten komplexe ethische Konflikte besser als die mythischen Moralgeschichten der heiligen Schriften. Literatur, nicht die Heilige Schrift, nährt den Geist und – eine andere Metapher haben wir nicht – die Seele. Wir glauben zwar nicht an Himmel oder Hölle, doch wird kein Statistiker nachweisen können, dass wir in Ermangelung des Anreizes und der Abschreckung mehr Eigentums- oder Gewaltverbrechen begehen als gläubige Menschen – eine gründliche statistische Untersuchung würde, so vermute ich, sogar ergeben, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir kein zweites Mal leben, es sei denn durch unsere Kinder, für die wir mit ganzem Herzen den Weg frei machen und unseren Platz räumen. Wenn die Menschen erst akzeptiert haben, dass ihr Leben kurz und mühsam ist, werden sie einander womöglich besser behandeln, nicht schlechter. Unserer Überzeugung nach kann man ohne Religion ein moralisch einwandfreies Leben führen. Und wie wir wissen, haben sich umgekehrt zahllose Menschen von der Religion dazu verleiten lassen, sich nicht nur keinen Deut besser zu betragen als andere, sondern Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die selbst einem Zuhälter oder einem Völkermörder noch ein Stirnrunzeln entlocken würden.
Vor allem aber bedürfen wir Ungläubigen keiner Bekräftigungsmaschinerie. Blaise Pascal dachte an Leute wie uns, als er einem Briefpartner die Worte in den Mund legte: „Ich bin so geschaffen, dass ich nicht glauben kann.“ Zur Zeit der großen mittelalterlichen Ketzerverfolgungen wollten in dem Dorf Montaillou die Inquisitoren von einer Frau wissen, wo sie ihre ketzerischen Zweifel an der Hölle und der Wiederauferstehung herhabe. Obwohl sie gewusst haben muss, dass ihr von der Hand dieser frommen Männer ein langsamer Tod drohte, antwortete sie, sie habe ihre Zweifel von niemandem, sondern habe sie alle selbst entwickelt. (Häufig hört man Geistliche die intellektuelle Schlichtheit ihrer Herde loben; in diesem Fall trifft das sicher nicht zu angesichts der geradlinigen Vernunft und Klarheit, die indes mehr Menschen, als wir aufzählen könnten, mit Prügeln und Flammen ausgetrieben wurden.)
Wir müssen uns nicht täglich, einmal in der Woche oder an besonderen Feiertagen versammeln, um uns unserer Rechtschaffenheit zu versichern oder uns in unserer Unwürdigkeit zu ergehen. Wir Atheisten brauchen keine Priester und auch keine geistliche Hierarchie, die über die Einhaltung ihrer Lehre wachen. Opfer und Zeremonien sind uns ebenso zuwider wie Reliquien und die Verehrung jeglicher Bilder und Objekte – und das schließt auch eine der nützlichsten aller menschlichen Erfindungen ein, das Buch. Für uns kann kein Flecken auf Erden „heiliger“ sein als ein anderer: Die pompöse Absurdität einer Pilgerreise und die horrende Tötung von Menschen im Namen einer heiligen Mauer, einer Höhle, eines Schreins oder eines Steins ersetzen wir durch den lässigen, vielleicht auch eiligen Gang vom einen Ende der Bibliothek zum anderen oder zum Mittagessen in netter Gesellschaft auf der Suche nach Wahrheit und Schönheit. Vorausgesetzt, wir betreiben unsere Studien ernsthaft, begegnen wir bei manchen dieser Ausflüge zum Bücherregal, ins Restaurant oder in die Kunstausstellung freilich dem Glauben und Gläubigen – von den großen frommen Malern und Komponisten bis hin zu den bedeutenden Werken des Augustinus, des Thomas von Aquin, des Moses Maimonides und des John Henry Newman. Großartige Gelehrte wie diese haben allerlei Bösartiges und Dummes von sich gegeben und lächerlich wenig über die Keimtheorie bei der Krankheitsübertragung oder die Stellung der Erdkugel im Sonnensystem und erst recht im Universum gewusst; eben aus diesem Grunde gibt es ihresgleichen heutzutage nicht mehr, und es wird sie auch morgen nicht geben. Die letzten verständlichen, edlen oder inspirierenden Worte vonseiten der Religion liegen entweder sehr lange zurück, oder aber sie sind zu einem bewundernswerten, aber nebulösen Humanismus mutiert wie etwa bei Dietrich Bonhoeffer, einem mutigen evangelischen Pastor, der vom NS-Staat, mit dem er sich nicht arrangieren wollte, gehenkt wurde. Wir begegnen keinen Propheten oder Weisen mehr wie in der Antike. Deshalb sind die heutigen Gebete nur mehr ein Echo der gestrigen, bisweilen hochgeschraubt zu einem Kreischen, das die schreckliche Leere fernhalten soll.
Manch religiöse Apologie ist auf ihre beschränkte Art fantastisch –hier sei Pascal erwähnt –, andere sind langweilig und absurd – hier muss C. S. Lewis genannt werden –, doch beide Kategorien haben eines gemeinsam: ihre entsetzliche Angestrengtheit. Wie viel Mühe sie darauf verwenden müssen, das Unglaubliche zu beteuern! Die Azteken mussten täglich einen menschlichen Brustkorb öffnen, um sicherzustellen, dass am nächsten Tag die Sonne aufging. Monotheisten sollen ihre Gottheit sogar noch öfter belästigen – vielleicht für den Fall, dass sie taub ist. Wie viel Eitelkeit verbirgt sich, mehr schlecht als recht, hinter dem Anspruch, Gegenstand eines göttlichen Plans zu sein? Wie viel Selbstachtung muss man opfern, um sich permanent im Bewusstsein der eigenen Sünde zu suhlen? Wie viele Täuschungen und Verrenkungen sind nötig, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse so zu manipulieren, dass sie zu Offenbarungen von Gottheiten „passen“, die vor langer Zeit von Menschen geschaffen wurden? Wie vieler Heiliger, Wunder, Konzile und Konklaven bedarf es, um ein Dogma zunächst aufzustellen und es dann – nachdem in seinem Namen unermessliche Schmerzen und Verluste ertragen, absurde Grausamkeiten verübt wurden – für ungültig erklären zu müssen? Gott hat den Menschen nicht nach seinem Vorbild geschaffen. Ganz offensichtlich war es genau umgekehrt, was die Vielfalt der Götter und Religionen ebenso mühelos erklärt wie den Brudermord, der zwischen und innerhalb von Religionen zu beobachten ist und die Fortentwicklung der Zivilisation so behindert.
Religiöse Gräueltaten der Vergangenheit und der Gegenwart erklären sich nicht daraus, dass wir böse sind, sondern daraus, dass die menschliche Spezies von Natur aus nur teilweise rational ist. Die Evolution bringt es mit sich, dass der präfrontale Kortex bei uns zu klein, die Adrenalindrüsen zu groß und die Sexualorgane schlampig konstruiert sind – Defizite, die einzeln oder in Kombination unweigerlich Unglück und Chaos heraufbeschwören. Dennoch: Wie anders stellt sich die Sache dar, wenn wir die angestrengten Gläubigen beiseitelassen und uns der nicht weniger mühsamen Arbeit eines, sagen wir, Darwin, eines Hawking oder eines Crick zuwenden. Diese Leute sind selbst dann, wenn sie sich täuschen oder – was unvermeidbar ist – einem Vorurteil aufsitzen, noch erhellender als jeder ach so bescheidene Vertreter des Glaubens, der vergeblich die Quadratur des Kreises versucht, indem er erklärt, dass er, eine bloße Kreatur des Schöpfers, in die Absichten dieses Schöpfers eingeweiht ist. In Fragen der Ästhetik kann keine völlige Einigkeit herrschen, doch wir säkularen Humanisten, Atheisten und Agnostiker wollen die Menschheit durchaus nicht all ihrer Wunder und Tröstungen berauben. Nicht im Geringsten. Die komplexen Aufnahmen des Hubble-Raumteleskops sind eindrucksvoller, rätselhafter und schöner, aber auch chaotischer, übermächtiger und beängstigender als jeder Schöpfungsmythos und jede Endzeitvision. Wer einmal Hawkings Ausführungen zum „Ereignishorizont“ gelesen hat, jenem theoretischen Rand eines schwarzen Loches, hinter dem man, ebenfalls theoretisch, in die Vergangenheit und Zukunft blicken kann (wozu man aber leider, wenn man sich über diesen Rand stürzen würde, definitionsgemäß nicht genug „Zeit“ hätte), den wird Mose und sein unscheinbarer „brennender Dornbusch“ ziemlich kalt lassen. Wer die Schönheit und Symmetrie der DNS-Doppelhelix betrachtet und womöglich noch die eigene Genomsequenz bis ins Kleinste analysieren lässt, wird nicht nur beeindruckt sein, welch nahezu perfekte Erscheinung seiner Existenz zugrunde liegt, sondern (hoffentlich) auch beruhigt erkennen, dass er so viel mit anderen Stämmen der menschlichen Spezies gemein hat – der Begriff „Rasse“ ist, ebenso wie der Begriff der „Schöpfung“, hinfällig geworden –, und fasziniert feststellen, wie sehr auch er ein Teil des Tierreiches ist. Da kann man wahrlich demütig werden im Angesicht seines Schöpfers, der allerdings, wie sich herausstellt, kein „Wer“ ist, sondern eine Kette von Mutationen, die erheblich zufälliger ablaufen, als unsere Eitelkeit es sich wünschen würde. Das ist mehr Rätselhaftes und Erstaunliches, als Säugetiere wie wir verarbeiten können. Selbst der gebildetste Mensch der Welt wird heute zugeben – ich sage nicht beichten –, dass er oder sie immer weniger, aber zumindest immer weniger über immer mehr weiß.
Was den Trost angeht, so betonen religiöse Menschen zwar gern, dass der Glaube dieses Bedürfnis stillt, doch dazu kann ich nur sagen: Wer falschen Trost anbietet, ist ein falscher Freund. Die Religionskritiker bestreiten ja gar nicht, dass Religion eine Schmerz stillende Wirkung hat, warnen aber vor dem Placebo und dem Fläschchen mit dem eingefärbten Wasser. Das wohl beliebteste falsche Zitat der Moderne – und mit Sicherheit das beliebteste in diesem Zusammenhang – ist die Behauptung, dass Marx die Religion als „Opium fürs Volk“ abtat. Das Gegenteil war der Fall: Der aus einer Rabbinerfamilie stammende Marx nahm die Religion sehr ernst und schrieb in seinem Buch Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Folgendes:
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.
Der berühmte Ausspruch ist somit eigentlich gar nicht falsch zitiert, sondern wird vielmehr für den primitiven Versuch herangezogen, den philosophischen Einwand gegen die Religion zu verdrehen. Wer geglaubt hat, was Priester, Rabbis und Imame über das Denken und die Denkart der Ungläubigen sagen, wird im Folgenden noch weitere Überraschungen erleben. Vielleicht misstraut er den Worten fortan – oder nimmt sie nicht mehr „in gutem Glauben“ hin, was ja des Übels Wurzel ist.
Marx und Freud, das sei zugegeben, waren keine Ärzte oder Naturwissenschaftler. Besser sehen wir in ihnen die großartigen und fehlbaren fantasievollen Essayisten. Anders ausgedrückt: Wenn sich das intellektuelle Universum ändert, so will ich mich nicht überheblich von der Selbstkritik ausnehmen. Ich gebe mich auch durchaus damit zufrieden, dass manche Widersprüche widersprüchlich bleiben, manche Probleme von der auf Säugetiere zugeschnittenen Großhirnrinde des Menschen nie gelöst werden und sich uns manches nie erschließen wird. Wenn der Nachweis erbracht würde, dass das Universum endlich ist, oder auch, dass es unendlich ist, so wäre beides für mich gleichermaßen unfassbar und unergründlich. Und ich habe zwar viele Menschen getroffen, die erheblich weiser und klüger sind als ich, doch ich kenne niemanden, der so weise und intelligent wäre, dass er etwas anderes behauptete.
Die mildeste Kritik an der Religion ist mithin die radikalste und vernichtendste. Religion ist von Menschen gemacht. Nicht einmal die Menschen, die sie geschaffen haben, sind sich einig, was ihre Propheten, Erlöser oder Gurus nun tatsächlich gesagt oder getan haben. Und erst recht wird es ihnen nicht gelingen, uns den „Sinn“ späterer Entdeckungen und Entwicklungen zu erklären, die ihre Religionen zunächst behindert oder verleugnet haben. Trotzdem beharren die Gläubigen noch immer auf ihrem Wissen! Ja, sie bestehen darauf, über ein allumfassendes Wissen zu verfügen. Sie wollen nicht nur wissen, dass Gott existiert und dass er den ganzen Laden schuf und beaufsichtigte, sondern auch, was „er“ von uns verlangt – von der Ernährung über religiöse Riten bis hin zur Sexualmoral. Anders ausgedrückt: Im Rahmen eines enormen und komplizierten Diskurses, in dem wir immer mehr über immer weniger wissen, der uns jedoch die eine oder andere erhellende Erkenntnis verspricht, will uns eine Gruppe – die ihrerseits aus widerstreitenden Gruppen besteht – in ihrer schieren Arroganz weismachen, dass sie bereits über alle wichtigen und nötigen Informationen verfügt. Diese Dummheit, gekoppelt mit solcher Überheblichkeit, sollte für sich schon ausreichen, den „Glauben“ aus der Debatte auszuschließen. Wer alles weiß und für seine Gewissheit göttliche Rechtfertigung in Anspruch nimmt, hat seinen Platz in den Anfängen unserer Spezies. Es mag ein langer Abschied werden, doch er hat schon begonnen und sollte wie jeder Abschied nicht unnötig in die Länge gezogen werden.
Wer mich kennenlernt, vermutet vielleicht nicht unbedingt, dass ich so denke. Ich habe wohl länger mit gläubigen Freunden zusammengesessen als mit anderen. Mich ärgert manchmal, dass diese Freunde mich gern einen „Suchenden“ nennen, was ich nicht bin, oder jedenfalls nicht in dem Sinne, wie sie es meinen.
©Blessing©
Literaturangabe:
HITCHENS, CHRISTOPHER: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. Aus dem Englischen von Anne Emmert. Blessing Verlag, München 2009. 352 S., 18,50 €.
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