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„Der Hunger nach Weite“

Ein Gespräch mit der Berliner Autorin Julia Blesken

© Die Berliner Literaturkritik, 20.11.09

BERLIN (BLK) – Julia Blesken hat mit „Ich bin ein Rudel Wölfe“ eines der interessantesten Romandebüts des Jahres 2009 veröffentlicht. Darin erzählt sie die Geschichte von Re – einer jungen Frau, deren Welt hinter ihrem Dorf endet und die sich nach dem Fall der Mauer auf den Weg nach West-Berlin macht. In der Hoffnung, dort ihre Träume verwirklichen zu können, versinkt sie jedoch bald in der Weite der Erinnerung, aus der sie nur eine Nachricht ihres engsten Vertrauten reißen kann. Obwohl Re sich auf die Rückkehr begibt, bleibt es ungewiss, ob sie wirklich ankommen kann. Aus Erinnerungen und intensiven Beobachtungen setzt Julia Blesken ein Mosaik aus dichten sprachlichen Bildern zusammen. Mit „Ich bin ein Rudel Wölfe“ hat die Berlinerin ein stilles Debüt verfasst, das sowohl sprachlich als auch inhaltlich beeindruckt.

Die 1976 geborene Autorin gewann 2003 mit ihrer Erzählung „Tabula Rasa“ den 2. Platz des Bettina-von-Arnim-Preises. Zwei Jahre später folgte die Teilnahme an der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. In diesem Jahr erhielt Julia Blesken das Hermann-Lenz-Stipendium. Im Gespräch mit diesem Literaturmagazin spricht Julia Blesken über den schmerzhaften Prozess des Schreibens, den Mauerfall und ihre Pläne für die Zukunft.

BLK: Frau Blesken, im August 2009 haben Sie Ihren ersten Roman „Ich bin ein Rudel Wölfe“ veröffentlicht. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Julia Blesken: Als mein Text fertig war, hatte ich sehr viel Glück, dass sich jemand meiner angenommen hat und das Manuskript für mich weggeschickt hat. Dann hatte ich nochmals Glück, indem ich einen Verlag gefunden habe, der einfach wunderbar ist. Er hat das Manuskript zunächst einmal so angenommen, wie es war, um dann ein sehr genaues Lektorat anzuschließen, dabei ging es vor allem darum, diesen etwas frei schwebend daherkommenden Text zu erden. Der Text wurde zeitlich und örtlich genauer festgesetzt – ihm wurde sozusagen ein Rahmen gegeben. Nach diesem ersten Lektorat ging alles sehr schnell und ich habe den Text dann eigentlich noch einmal geschrieben.

Also hat der Roman mehrere Entwicklungsstufen durchlaufen?

Der Text hatte sehr viele Entwicklungsstufen. Es waren zuerst sieben Erzählungen, die zwar miteinander verbunden, aber auch in sich abgeschlossen waren – die Figuren haben sich quasi immer wieder neu erfunden. Ich habe aber sehr schnell gemerkt, dass die Erzählungen sich gegenseitig die Luft genommen haben. Ich musste einen anderen Rahmen finden – eigentlich hat sich, das kann man wahrscheinlich so sagen, der Stoff seine Form gesucht. Es war oft ein sehr schmerzlicher und auch recht lang andauernder Prozess, weil jede Figur ihren eigenen Entwicklungsverlauf genommen und sich mit diesem die Konstellation innerhalb des Beziehungsgeflechts immer wieder verschoben hat. Bis dann alles so war, wie es am Ende sein sollte und jede Figur wirklich so gezeichnet war, wie ich sie wollte und wie sie selbst sich entwickeln wollte, hat es sehr lange gedauert.

Welche Rolle hat dabei das erste Lektorat gespielt?

Das erste Lektorat war ein sehr wichtiger Schritt, der noch einmal den Anstoß zu einer großen Entwicklung des Textes gegeben hat. Dann folgte ein sehr genaues kleineres Lektorat, in dem es um Details, einzelne Worte und so weiter ging. Aber im Prinzip kann man sagen, der Text hat sich seine Form gesucht, was recht lange gedauert hat und auch sehr schmerzlich war.

Sie sprechen von der langen Dauer der Arbeit. Seit wann wussten Sie, worüber Sie schreiben wollten?

Das war auch ein sehr langer Weg. Ich glaube, dass es gerade beim ersten Buch so ist, dass es einfach geschrieben werden muss, dass sich das Thema sozusagen aufdrängt und man die zwingende Notwendigkeit empfindet, über diesen Gegenstand zu schreiben. Bei mir war es auch so, dass ich eigentlich immer schon wusste, worüber ich schreiben muss – über dieses Dorf und diese Landschaft und über die Weite des Himmels – ich habe das alles sehr lange mit mir herumgetragen. Zunächst habe ich eigentlich gar nicht gemerkt, dass jede Erzählung immer wieder um dasselbe kreiste. So war es aber – jede Erzählung spielte immer wieder in diesem Dorf und ich merkte, ich kam davon gar nicht los. Das Einfachste wäre gewesen, die Erzählungen zu verbinden, das hat aber nicht funktioniert und so wurde dann dieser Roman daraus. Ich hab eigentlich die ganze Zeit das Gefühl gehabt, das ist es, selbst wenn es mir manchmal nicht bewusst war. Das ist eigentlich mein Thema und das ist das, worüber ich dieses erste Buch schreiben muss. Es war quasi eine dringende Notwendigkeit, die sich mir eingebrannt hat und gegen die ich mich auch gar nicht wehren konnte.

In ihrem Roman spielen Erinnerung und Kindheit eine große Rolle. Insbesondere in der Binnenhandlung, die ein Mosaik aus Erinnerungsstücken bildet.

Das stimmt. Es gibt zwei Handlungsstränge: Zum einen den, der die Vergangenheit widerspiegelt, der weit in die Kindheit hineinreicht und das Leben in dem Dorf beschreibt. Er reicht bis zu dem Punkt, an dem Re (das ist die Hauptfigur des Romans, Anmerkung der Redaktion) ihren Bruder  schlafend in ihrem Dorf zurücklässt. Dieser Strang beschreibt auch, wie sich der Ablösungsprozess aufbaut, wie Re zu dem Entschluss gelangt, ihren Bruder, ihren engsten Vertrauten, ihre Liebe, einfach zurück zu lassen.

Und der zweite Handlungsstrang?

Dann gibt es noch den Strang der näheren Gegenwart, der Res Weg zurück in dieses Dorf beschreibt. Beide Handlungsstränge kulminieren am Ende in der Frage, ob sie in ihr Dorf zurückkehrt, ihr altes Leben wieder aufnimmt, zu ihrem Bruder zurück findet oder eben nicht. Gegenwart und Vergangenheit ordnen sich an diesem Punkt  neu und die letzte Kindheitserinnerung steht dann auch in der Vergangenheit, anders als zuvor, wo die Kindheitserinnerungen immer in der Gegenwart standen, weil das Leben, was sie bis dahin geführt hatte, eigentlich alles war, was sie kannte, was sie liebte, was sie brauchte. Diese Nähe drückt sich sowohl in der Erzählperspektive als auch in der gewählten Zeitform aus. Am Anfang bzw. am Ende schließen sich die Kreise, da verschwimmt alles, bis sie sich dann am Ende als Ich bzw. Re aus dieser Geschichte herausgeschält hat.

Re scheint so sehr mit der Vergangenheit und der Erinnerung an sie verhaftet zu sein, dass sie in der Gegenwart nicht vorwärts kommen kann. Sie flüchtet aus der vertrauten Umgebung, die die Welt für sie bedeutete, um nach Berlin zu gehen – nur um dort wieder nach etwas Vertrautem zu suchen. Was sind die Gründe dafür?

Re hat zwar diesen Schritt gemacht – sie hat ihren Bruder zurückgelassen und ist nach Berlin gegangen – aber sie hat ihn lediglich räumlich, nicht seelisch vollzogen. Noch ganz in der Erinnerung verhaftet, konnte sie Neues nicht als Bereicherung empfinden. Der Grund liegt darin, dass sie gar nicht offen war, noch gar nicht verwinden konnte, was sie getan hatte. Sie trug soviel Schmerz in sich, dass sie für all die Dinge, die auf sie zukamen, für all das, was sie ja eigentlich gewollt hat – so hatte sie ja eigentlich konkrete Pläne und Ziele – gar keinen Raum gefunden hat. Sie war wie gelähmt und hat sich zurückgezogen auf diese Erinnerungsinseln, hat ihren Geschmacksinn verloren, ihren Geruchssinn, konnte sich aus dieser Bewegungslosigkeit gar nicht lösen. Erst die Postkarte des Bruders befreite Re aus dieser Starre.

Im Roman wird ja auch geschildert, dass Re keinen Punkt hat, an den sie anknüpfen kann, weil die Verbindung zu ihr selbst gestört ist. Sie ist nur noch passive Beobachterin und verleiht ihren Gefühlen keinen verbalen Ausdruck mehr.

Sie sucht quasi Anknüpfungspunkte, die sie nicht finden kann. Re vollzieht einen großen Schritt. Es geht nicht nur um den Ost-West-Gegensatz, sondern es geht auch darum, dass sie vom Dorf in die Stadt gegangen ist, was sozusagen ein doppelter Bruch ist. Es ist eine in diesem Sinne zweifach neue Welt, die sich ihr eröffnet. Insofern sucht sie immer nach Vertrautem, das sie nicht findet. Man muss es einfach vor dem Hintergrund sehen, dass das, was sie bis dahin erlebt hatte, räumlich sehr begrenzt war und für sie wirklich alles bedeutet hat. Das Weggehen und Durchtrennen der Bande konnte sie noch  nicht tragen.

Wie wichtig ist diese Bande für Sie?

In dieser Familie lebt jeder sehr auf sich bezogen. Es herrscht eine große Sprachlosigkeit. Das ist für Re, die sehr sensibel ist und sehr genau wahrnimmt, wirklich schwierig, weil sie dort keine Ausdrucksmöglichkeiten findet. Diejenigen, auf die sie sich direkt beziehen kann, sind der Bruder und der Großvater. Die Beziehung zum Bruder ist besonders wichtig für sie. Einerseits gibt er ihr Sicherheit und Halt. Andererseits spielen natürlich auch Brutalität und Einengung eine Rolle. Sie ist fasziniert von seiner Stärke und der elementaren Kraft – er lässt sich von niemandem beugen. Außerdem beschützt er sie mit seiner Stärke. Dadurch ist ihr aber vieles gar nicht möglich und ihr wird keine Freiheit gelassen sich zu entwickeln. Aus diesem Zwiespalt versucht sie sich zu befreien.

… indem sie nach Berlich aufbricht. Durch den Mauerfall hat Re auf einmal die Freiheit, dahin zu gehen, wohin sie gehen will. Dieses Ereignis motiviert ihre Entscheidung, die vertraute Welt zu verlassen. Wäre die Mauer nicht gefallen, hätte sie sich auch in einen Zug nach Ostberlin gesetzt?

Nein, das hätte sie nicht. Es hatte wirklich etwas mit der Grenzöffnung zu tun und mit der Freiheit, jetzt gehen zu können, wohin man möchte, und tun zu können, was man möchte. Insofern spielt die Maueröffnung für das Buch eine ganz wichtige Rolle, denn Res Geschichte ist zwar nicht meine Geschichte – ich bin in Westberlin geboren und aufgewachsen – dennoch hätte auch ich die Geschichte ohne die Maueröffnung nicht schreiben können. Meine Bewegung war eine andere, mein Blick war ein anderer, nämlich der von außen nach innen. Das unterscheidet mich von Re. Vieles von dem, worüber ich geschrieben habe, habe ich aber selbst erlebt.

Was waren Ihre persönlichen Erfahrungen?

Ich habe in Berlin gelebt, und der Hunger nach Weite, nach Himmel, nach Landschaft war einfach so groß, dass meine Familie und ich uns unmittelbar nach der Maueröffnung ins Auto gesetzt haben, um dann irgendwann in diesem Dorf anzukommen, einen Bauernhof zu kaufen und wirklich einzutauchen in eine für mich bis dahin fremde Lebenswirklichkeit. Der Hunger hat sich gestillt – nach Himmel, nach Landschaft, nach Weite – und die vielen Geschichten, all das, was ich erlebt habe, spiegelt sich in diesem Buch wider. Insofern hätte ich ohne die Maueröffnung das Buch nicht schreiben können und Re wäre natürlich andererseits ohne die Grenzöffnung nicht nach Berlin gekommen. Wir beziehen uns also quasi aufeinander, wenn auch in anderen Richtungen.

Was ist für Sie beim Schreiben besonders wichtig?

Wichtig ist, die eigene Stimme zu finden. Schreiben heißt für mich, dass die Worte nicht nur inhaltlich aufeinander bezogen sind, sondern auch rhythmisch – was heißt, dass die Atmung die Worte in einen Fluss bringt, der manchmal langsamer, manchmal schneller, manchmal reißend, manchmal mitreißend und fortreißend sein kann – und der so das Geschehene quasi begleitet oder widerspiegelt. Bei mir spielt neben der inhaltlichen auch die sprachliche Dimension eine große Rolle.

Haben Sie schon Pläne für die Zukunft?

Nach dem Schreiben des Romans war ich zunächst ganz leer und hatte das Gefühl, dass ich erstmal alles gesagt habe, was ich sagen wollte. Die Dringlichkeit, die ich empfunden habe, ist quasi in den Roman übergegangen. Seit einiger Zeit ist es so, dass es sich in mir langsam wieder füllt und dass ich eigentlich auch sehr genau weiß, was ich als nächstes schreiben werde. Es wird wieder ein Roman und ich habe auch schon kleinere Aufzeichnungen. Vielleicht werde ich diesmal auch stärker die Form bestimmen, als der Stoff es tut – wir werden sehen. Darüber kann ich aber im Moment noch nicht so viel sagen, nur dass ich mich sehr freue einen Anfang gefunden zu haben, der ebenso zwingend weitergeschrieben werden will.

Frau Blesken, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Von Carolin Beutel

 

Literaturangabe:

BLESKEN, JULIA: Ich bin ein Rudel Wölfe. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2009. 224 S., 20 €.


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