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Der langsame Abschied vom Ich

Gudrun Seidenauer: Aufgetrennte Tage

© Die Berliner Literaturkritik, 07.07.09

Von Irma Weinreich

Marianne hat sich einige Tricks einfallen lassen, damit ihre zunehmende Vergesslichkeit nicht auffällt. Die älteren Menschen oft gestellte Frage nach der Gesundheit beantwortet sie spontan und ohne groß zu überlegen: „Danke, den Umständen entsprechend.“ Vorsichtshalber hat sie sich den Satz auf einen Zettel notiert. Fällt er ihr dann doch nicht ein, könnte sie ihn noch einmal nachlesen. Das hilft ihr gegen die Angst. Gibt ein wenig Sicherheit gegen die entsetzliche Leere im Kopf, gegen die die an Alzheimer Erkrankte nichts tun kann. Es ist ein Abschied auf Raten, den die bei Salzburg lebende österreichische Autorin Gudrun Seidenauer (Jahrgang 1965) in ihrem Roman „Aufgetrennte Tage“ äußerst behutsam beschreibt.

Die unbeschönigten Alltagsbeobachtungen folgen dem bisher durch keinerlei Medikament zu stoppenden, grausamen Krankheitsverlauf bis zum Tod. Schonungslos offen gelegt werden die emotionalen Bindungen in einer Familie, in der für Liebe und Fürsorge scheinbar nie viel Zeit blieb. Die bereits kranke Marianne bleibt nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes, der unerwartet nach einem Sturz auf der Kellertreppe starb, völlig der Einsamkeit überlassen.

Die Tochter Friederike hat früh das elterliche Haus verlassen und will auf keinen Fall auf ihr jetziges Leben verzichten. Während die Mutter, wie in einem Spinnennetz gefangen, tiefer und tiefer in der Vergangenheit versinkt, quält Friederike ein ungeheurer Verdacht.

Könnte es sein, dass die eigene Mutter am Tod des Vaters Schuld trägt? Doch der Versuch einer Annäherung an die Mutter und an die Wahrheit ist bis zuletzt schwierig. Während sich Friederike durch den Tod ihres Vaters dazu gezwungen sieht, sich ihrer Mutter zu stellen, weicht diese immer weiter zurück: in eine Vergangenheit, in der sie noch Kind war und noch keine Taschen und Zettel brauchte, um nicht zu vergessen. Am Ende des Buches bleiben viele Fragen offen, der Leser mag sie selbst beantworten.

Literaturangabe: SEIDENAUER, GUDRUN: Aufgetrennte Tage. Residenz Verlag, St. Pölten 2009. 264 S., 21,90 €.

Weblink:

Residenz Verlag


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