Von Leonhard Reul
Katrin Rohnstock gibt ein Buch heraus, das außerordentliche Brisanz besitzt. Der Titel lautet: „Der letzte Neubeginn. Senioren erzählen vom Umzug in ihr Altersdomizil“. Knapp 20 alte Menschen kommen in dem 160 Seiten starken Band zu Wort und erzählen zehn Autoren der „Firma Rohnstock Biografien“ (die laut Klappentext auf autobiografisches Ghostwriting spezialisiert sei) ihr Leben. Ein Leben, das im Altersheim endet und das nicht immer darauf angelegt war, dort zu enden. Ein spannendes Projekt, das viel verspricht. Einblick ins Erleben der alten Menschen, die ihre vertraute Umgebung aufgrund von verschiedensten Umständen aufgeben müssen und den letzten Neubeginn im Altenheim wagen. Ein Buch, das von den Ängsten und Vorbehalten der Senioren gegenüber der Institution Heim berichtet. Und den Überraschungen, die es dort für sie zu erleben gibt. Jeder Teilnehmer gibt zum Abschluss auch eine Wertung ab, was er vom nun geführten Heimleben hält.
Und hier beginnt die Schwäche des Buches: alle Befragten sind rundum zufrieden. Keiner klagt über Zustände, wie sie dem Kundigen aus der Welt der Altenpflege bekannt sein dürften. Alle Erzählenden sind froh in der sicheren, sie versorgenden, ihnen hotelartig erscheinenden Welt der letzten Lebensphase angekommen zu sein. Zwar flackert hin und wieder Wehmut auf, wenn sich die Senioren ihrer früheren Eigenständigkeit erinnern, aber der Grundtenor bleibt: „Gut, dass wir im Heim sind.“ Und dieses Credo ist in dieser Häufigkeit einfach schwer zu glauben. Zwar ist Rohnstocks Klientel ein (in materieller Hinsicht) überdurchschnittlich Gesegnetes, das in Häusern mit prachtvollen Namen und oftmals gar korrespondierenden Anlagen logiert – aber selbst hier schlägt das Gebrechen und das damit verbundene Leiden in der Regel erbarmungslos zu.
Doch darüber werden nur wenige Worte gemacht – sei es nun von den Betroffenen selbst oder den Autoren, die in unterschiedlicher Güte rekapitulieren, was ihnen in der Begegnung mitgeteilt ward. Von berührenden Zeugenberichten Zurückgebliebener und Liebender bis zu den sich sehr Distanzierenden, die sich aufs Schildern von Projekten im Heim beschränken, ist im Buch aber alles geboten.
Wer soll dieses Buch aber nun mit welchem Gewinn lesen? Diese Frage stellt sich nach jedem Bericht immer drängender. Sollen lediglich Senioren, die in der Entscheidungsphase „Heimplatz suchen ja/nein“ durch diese Erfolgsgeschichten (mit nur minimalen Freiheits- und Sach-Verlusten, geringen bald überwundenen Eingewöhnungsschwierigkeiten) motiviert werden, selbstverantwortlich tätig zu werden? Soll gar eine werbende Empfehlung für die jeweils zu Beginn eines jeden Berichts genannte Institution ausgesprochen werden? Ist der Band mit dem suggestiv anmutendem Cover (ein Blick ins Grüne hinaus, durch ein schönes Fenster mit Goldknauf) die ideale Weihnachtsgabe besorgter Kinder, die ihre Eltern versorgt wissen wollen? Wer würde nicht gerne gleich nach der Lektüre in eines der luxuriösen Häuser ziehen wollen?
Ohne die reimenden Versuche einer glücklichen Bewohnerin zu diskreditieren – aber ist der Heimaufenthalt nicht doch etwas zu rosarot dargestellt in nachfolgenden Zeilen: „Hinter hohem Gittertor/ im Apartment mit Komfort/ lebe ich total beschützt/ was dem Seelenfrieden nützt.// Gegen körperlichen Kummer/ hängt an Schnur ein Notruf-Summer./ Garantiert ist dann sofort/ Erste Hilfe gleich vor Ort.// Ganze Haushaltsplackerei/ ist vergessen und vorbei./ Nix mit kochen oder putzen, / gute Geister sind von Nutzen.// Süße Freuden täglich warten/ in dem schönen Wintergarten/ und im Hofteich ziehen leise/ goldne Fische ihre Kreise. (…)“
Rohnstock zeichnet die Welt des Altersluxusdomizils in den schönsten Farben. Dass es sich dort aushalten ließe – hinter dem güldenen Tor mit Blick auf goldene Fische und hin und wieder Kaffee und Kuchen mit goldenem Besteck, das will man gerne glauben. Doch das von ihr vorgestellte Altersleben ist die Ausnahme Weniger und nicht die Regel. Fair wäre gewesen, im Titel nicht den Eindruck der Allgemeingültigkeit zu erwecken – oder den Band eben um Berichte der weniger Glücklichen zu ergänzen, die in den vom reichen Rohnstock-Klientel (es wird sogar lächerlicherweise Schleichwerbung betrieben, wenn erwähnt wird, Heimbewohner XY schreibe gerade mit der Firma Rohnstock seine Autobiografie) abgelehnten Heimen leben. So jedoch ergibt sich ein selektiver Blick auf eine Minorität unter dem Deckmantel, einen Querschnitt des Lebens im Altenheim zu zeichnen.
So wird das Unterfangen unehrlich – weil es eben nur „a brave new world“ vorspielt, wo es auch viel Schatten zu zeigen gäbe. Es gäbe die Möglichkeit, viel mehr Informationen zu geben, zu differenzieren und so eine glaubwürdige Schrift herauszugeben. So hingegen bleibt der Leser nur irritiert zurück: „So schön also ist das Altenheimleben?“. Einem Vorurteil – „in solche Heime geht man eh nur zum Sterben“– mit der konträren Sichtweise – „in solchen Häusern wird endlich alles gut“ – zu begegnen, ist nicht der Weisheit letzter Schluss.
Auch wenn das inhaltliche Konzept nur wenig überzeugt, so ist doch jedem alten Menschen, der im Rahmen dieser Reihe seine mitunter berührende Lebensgeschichte erzählt, offen Gehör zu schenken. Denn die Art und Weise, wie die lebensklugen Menschen sich mit Verlusten und Unabänderlichkeiten arrangieren oder auch Trauerarbeit leisten, ist beachtlich. Und sie kann uns allen etwas lehren, wenn auch nicht über den Heim-Alltag der „Durchschnittssenioren“.
Hut ab also vor den gesammelten Lebensberichten – der Idee eine Bilanz zu ziehen unter dem Aspekt der Lebensorte und Möglichkeitsräume. Durchaus auch Respekt für so manchen einfühlsamen Autor, der auf wenigen Seiten mit geschickt gewählten Mitteln ein stimmiges Bild von einem Menschen und dessen Lebensprojekt zeichnet. Allerdings ist die Themenfrage schlicht und ergreifend nur unzureichend beantwortet und der Verdacht geschürt, der Firma Rohnstock gehe es mit dieser Publikation nur um eine geschickte Form der Werbung, um neue Kunden mit autobiografischen Ambitionen für sich zu akquirieren. Und das ist schade.
Literaturangabe:
ROHNSTOCK, KATRIN (Hg.): Der letzte Neubeginn. Senioren erzählen vom Umzug in ihr Altersdomizil. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen 2010. 169 S., 14,90 €.
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