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Der Meinungsmacher und die Rebellen

Volker Zastrows politische Kampfschrift „Die Vier“

Von: KERSTIN FRITZSCHE - © Die Berliner Literaturkritik, 21.09.09

Der Frankfurter Journalist Volker Zastrow, seit 2006 Ressortleiter Politik bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, hat ein Buch über die vier früheren hessischen SPD-Landtagsabgeordneten geschrieben, die sich im November 2008 weigerten, ihre Parteigenossin Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin zu wählen. „Die Vier“ deckt freilich weniger eine Intrige auf, wie der Untertitel fälschlich verspricht, sondern wirft die Frage auf, was Journalismus eigentlich darf und sollte.

„Politik ist angewandte Liebe zum Leben“, hat die Philosophin Hannah Arendt einmal gesagt. Man kann durchaus annehmen, dass Politiker ihren Job mit Leidenschaft machen, und weiß trotzdem, dass Politik bisweilen ein ziemlich dreckiges Geschäft ist. Davon zeugten gerade im vergangenen Jahr mit Michael Kumpfmüllers „Nachricht an alle“ und Dirk Kurbjuweits „Nicht die ganze Wahrheit“ zwei grandiose Romane.

Die besten Bücher schreibt aber immer noch das Leben selbst. Eine heftig diskutierte politische Affäre datiert sich auf Anfang November vorigen Jahres, wirkt aber bis in den Bundestagswahlkampf nach. Der 4. November sollte ein großer Tag werden für Andrea Ypsilanti und die Hessen-SPD. All die nervigen Diskussionen über einen Linksruck, über die Wirtschaftlichkeit des Flughafenausbaus und die Grabenkämpfe in der eigenen Partei sollten aus dem Weg geräumt sein, wenn in diesem Bundesland erstmals eine Frau an der Spitze der Landesregierung stehen würde. Dass die Amerikaner am gleichen Tag höchstwahrscheinlich einen dynamischen Halbkenianer ins Präsidentenamt wählen würden, versprach auch in Hessen ein bisschen „Wind of change“ und schien Ypsilanti in ihrem „Yes we can“ zu bestätigen. Der Preis dafür war freilich hoch: Das Ministerpräsidentenamt war nur mit den Stimmen der Linkspartei zu erreichen. Das bedeutete Wortbruch, denn im Wahlkampf hatte die SPD den Wählerinnen und Wählern versprochen: nicht mit den Linken. Für die SPD-Abgeordneten Dagmar Metzger (Darmstadt), Silke Tesch (Marburg-Biedenkopf), Carmen Everts (Groß-Gerau) und Jürgen Walter (Wetterau) war dieser Preis zu hoch: Sie ließen einen Tag vorher Ypsilantis Plan platzen, indem sie ihr aus Gewissensgründen die Gefolgschaft verweigerten.

Was folgte, war mehr als ein Wirbelsturm. Erst jetzt ließ sich annähernd erahnen, was Dagmar Metzger bereits im März durchgemacht haben musste, als sie sich schon Ypsilantis erstem Anlauf, mit der Linkspartei an die Macht zu kommen, verweigert hatte. Medien, Bürger, ehemalige Genossen – alle stürzten sich auf die Vier. Innerhalb weniger Tage erreichten sie tausende von E-Mails, Anrufen und SMS, die meisten davon wohlwollend, viele aber auch stark beleidigend. Sogar Drohungen gab es, einige Linksalternative versuchten die „Abweichler“ zu Hause zu stellen. Die Parteiführung forderte sie zur sofortigen Niederlegung aller Ämter und des Mandats auf. Schnell wurden Verschwörungstheorien laut, die Vier seien von der Regierung Koch gekauft oder von der Wirtschaft bestochen, die Bundes-SPD habe intrigiert oder die Tat sei aus Enttäuschung über nicht erhaltene Posten geschehen. Der Hessische Landtag löste sich am 18. November selbst auf und beschloss Neuwahlen. Bei der erneuten Landtagswahl im Januar 2009 gingen die Wahlkreise der Vier an die CDU, die SPD sackte auf unter 24 Prozent, mit einem der schlechtesten Ergebnisse in der sonst roten Hochburg Darmstadt, wo die veränderte Situation der ehemaligen Kultusministerin Karin Wolff (CDU) wieder in den Landtag verhalf. Dutzende Parteigliederungen stellten Anträge auf Parteiausschluss der „Abweichler“, nur Dagmar Metzger nahm man wegen der frühen Offenlegung ihrer Entscheidung davon aus. Einzig das Verfahren gegen Everts wurde inzwischen mit einer Rüge beendet, gegen Tesch wurde es wieder neu aufgerollt, Walter erhielt gerade in zweiter Instanz zwei Jahre Funktionsverbot. Alle Vier haben keine politische Zukunft mehr, zwei von ihnen momentan auch kaum eine andere berufliche Perspektive. Und die Hessen-SPD der Post-Ypsilanti-Ära verweigert auch unter dem neuen Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel jegliche Auseinandersetzung mit den Geschehnissen.

Zastrow entpuppt sich nun als schnellster Drehbuchschreiber in Sachen „Hessische Verhältnisse“. Fasziniert von den Ereignissen, wie so viele Journalisten und Bürger, wollte er wissen, was das für Menschen sind, die so etwas auf sich nehmen. Denn Vergleichbares war bisher noch nie vorgekommen in Deutschland, selbst die „Kieler Schubladen-Affäre“ um den Sturz der ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidentin Heide Simonis 2005 verblasste neben den „Hessischen Verhältnissen“. In der Tat ist Zastrow, der viele Stunden lang mit Tesch, Walter, Everts und Metzger Interviews führte, eine packende Chronik der Ereignisse seit Metzgers Entscheidung im März 2008 gelungen. Dafür zieht er zum Vergleich das schon erwähnte Debakel in Schleswig-Holstein heran und liefert zahlreiche, gut aufbereitete Hintergrundinformationen, ohne die die Ereignisse noch schwerer zu verstehen wären, etwa den ewigen und tiefen Flügelkampf zwischen Linken und Rechten innerhalb der Hessen-SPD, die Geschichte der in Darmstadt gesellschaftlich und politisch wichtigen Familie Metzger oder Exkurse zur Bedeutung des Begriffs „Gewissen“ sowie der juristischen Fassung der „Freiheit des Mandats“.

Kern des Buches ist jedoch „eine neue Erkenntnis“, die Zastrow durch die Interviews gewonnen haben will, und die die „Intrige“ ausmache, mit der sich das Buch im Untertitel verkaufsfördernd schmückt: Nicht alle Vier könnten sich auf ihr Gewissen berufen. Die Gewissensentscheidung nimmt Zastrow nur Metzger und Tesch ab. Walter und Everts hingegen unterstellt er, sie wären die eigentlichen Drahtzieher hinter dem zweiten Links-Versuch von Ypsilanti gewesen, weil sie wollten, dass ihre Vorsitzende noch einmal an sich selbst scheitert. Außerdem hätten sie die anderen beiden sowie viele andere Abgeordnete im Umfeld für ihre Zwecke instrumentalisiert, gelenkt, mobilisiert. Das Motiv: Rache dafür, dass Walter beim Rotenburger Parteitag am 2. Dezember 2006 die Spitzenkandidatur gegen Ypsilanti verlor und in Folge bei den Plänen zur Regierungsbildung auch nicht das Amt des Wirtschaftsministers versprochen bekam, mit dem er hätte Everts zur Staatssekretärin machen können. Es gibt also laut Zastrow zwei „gute“ Abweichler und zwei „böse“. Zugegebenermaßen hat diese Theorie einen gewissen Charme. Weil sie die Ereignisse in einem leichter zugänglichen Schwarzweiß-Schema ordnet. Und dafür muss Zastrow noch nicht einmal seine Position als - wie es sich für einen FAZ-Redakteur gehört - Ypsilanti-Kritiker verlassen. Das Problem daran ist, dass er dadurch einen Teil der Erklärung für das, was am 3. November passiert ist, durch seine persönliche Einschätzung begründet, während er einige Fakten nur dann in Betracht zieht, wenn es ihm passt – womit er selbst in gewisser Weise ein Gebaren an den Tag legt, wie er es bei Walter und Everts kritisiert, wenn er sagt, diese seien in den Interviews nicht ehrlich gewesen oder hätten Dinge verschwiegen.

Durch Zastrows Stil lässt sich die Theorie jedoch gleichzeitig stark hinterfragen. Die Kategorie „politisches Sachbuch“ hat „Die Vier“ nicht verdient. Die Analyse der „Hessischen Verhältnisse“ und ihrer Protagonisten ist nämlich arg prosaisch, um nicht zu sagen filmisch geraten, etwa wenn Zastrow szenenartig jene wichtige Episode in Teschs Kindheit beschreibt, als sie bei einem Unfall ein Bein verlor, oder wie Metzger sich nach Verwandtschaftsbesuchen in der DDR an der ehemaligen innerdeutschen Grenze unter SED-Schikane gefühlt haben muss. Zwar ist es legitim, sich als Journalist seinen Figuren auch psychologisch, menschlich, nähern zu wollen. Davon lebt jede Reportage, jedes Porträt, das sind journalistische Stilmittel. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen der reinen Beschreibung, die dann beim Leser ein Bild kreiert, und der als Beschreibung getarnten, wertenden Beobachtung, die dem Leser bereits eine bestimmte Sichtweise transportiert. Zastrow praktiziert in seinem Buch durchweg letzteres. Schlimmer noch, er beschreibt in seinen „Porträts“ die Tage der Vier vor und nach der legendären Pressekonferenz so, wie er denkt, dass die Vier sie erlebt und gedanklich erfasst haben, ohne diese Position kenntlich zu machen. Für den Leser ist bei all den eingeschobenen, immer nur kurzen Zitaten schwer ersichtlich, was ursprünglich mal eine echte Aussage der Ex-Abgeordneten gewesen ist und was ihnen Zastrow als angenommenen Gedanken unterschiebt. Erst wer bei den Betroffenen nachfragt, wie wir es eigens für diese Rezension getan haben, erkennt Zastrows Vorgehen klar und deutlich. Mit lauterem Journalismus hat seine Arbeit daher wenig zu tun.

Besonders schwierig, gar verletzend-böse wird das beim Bild, das er von Carmen Everts zeichnet. Da leitet er mit Zitaten aus Marius Müller-Westernhagens Lied „Dicke“ ein und macht sich Gedanken darüber, welche Gedanken die lange Zeit übergewichtige Everts wohl beim Sehen des in Teilen wenig schmeichelhaften Films „Schwer verliebt“ hatte. Und weil dicke Menschen alle einsam sind, keinen Partner finden und also ein gleichsam verhärmtes wie verschlossenes Leben führen, klar, ist für Zastrow nur die logische Schlussfolgerung, dass Everts, 2008 nun endlich schlank geworden, all das auf einmal forderte, was das Leben ihr bisher an Erfolg und Spaß versagt hatte. Notfalls eben auch mit intriganter Gewalt. Was hat das mit Everts' politischen Überzeugungen zu tun? Hat Zastrow die promovierte Politologin in all den Interviewstunden gefragt, warum sie genau das studiert hat, warum sie in der SPD ist und was ihre Motivation für eine Dissertation über politischen Extremismus war? Das brächte vermutlich den Leser viel weiter als die Beschäftigung mit Geschlechterrollen und angeblichen, versteckten Minderwertigkeitskomplexen. Auch ist Zastrows Bild hier wie bei Tesch nicht schlüssig: Mal sind beide Frauen für ihn willensstark und energiegeladen, mal ist Tesch das arme Hascherl und Everts das in ewiger Bewunderung ergebene Anhängsel von Walter.

Überhaupt scheint Zastrow ein Problem mit seinen starken Protagonistinnen zu haben. Jürgen Walter wird im Gegensatz zu seinen Mitstreiterinnen nie nur beim Vornamen genannt, noch werden ihm irgendwelche emotionalen Attribute hinzugefügt. Und ganz ehrlich: Wen interessiert es denn, was für ein Outfit Everts bei der Pressekonferenz anhatte und wie lange sie für dessen Wahl brauchte? Wie auffällig Metzgers Frisur ist und welche der drei Damen nach dem Untertauchen am Abend des 3. November im Hotel welche Chipstüte öffnete? Und so, wie Zastrow Walters Unglauben darüber, gegen eine Frau verloren zu haben, schildert, scheint der Autor es selbst für unglaublich zu halten, dass das Alphatier Walter ausgerechnet an Ypsilanti gescheitert ist. Doch wer Zastrows erstes Buch, eine Kampfschrift gegen den neuen Feminismus und Gender Mainstreaming, gelesen hat, konnte eigentlich schon erahnen, dass er bei der Beurteilung von politischem Handeln von Frauen und Männern wohl kaum plötzlich andere Maßstäbe anlegen würde.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass „Die Vier“ teilweise mit heißer Nadel gestrickt wurde, um möglichst schnell damit Thema wie Markt zu besetzen. Jan Fleischhauers populäres, politisches Sachbuch „Unter Linken“ ist in diesem Segment für den Rowohlt-Verlag bereits ein solcher Erfolg, dass man mit Nachschub wohl schnell daran anknüpfen wollte. Darauf lassen auch kleine handwerkliche Fehler wie etwa „Pauly“ statt „Pauli“ oder Ungenauigkeiten bei den Datumsangaben schließen, obwohl das Buch von Alexander Fest persönlich lektoriert wurde. Kurz vor Erscheinen bemühte Rowohlt-Geschäftsführer Lutz Kettmann sich noch um eine schnellere, flächendeckende Auslieferung, damit Ypsilantis Absturz zeitgleich überall in Deutschland nachzulesen sein würde. Flankiert wurde das Ganze mit Vorveröffentlichungen von Textauszügen in Zastrows Medium, gekrönt mit dem Aufmacher der FAS am 9. August mit der nur wenig haltbaren Schlagzeile „Neue Partei nach Bundestagswahl?“. Obwohl so eine Aussage leicht überprüfbar ist, langte ihre Halbwertszeit bereits, um in Hessen größtmöglichstes Aufsehen zu erregen. Denn von „Spiegel Online“ bis zur kleinsten hessischen Postille hatten erst mal alle die vermeintliche Nachricht nachgeplappert. Für einen Journalisten vom Format Zastrows ein ziemlich zweifelhaftes Vorgehen, aber insgesamt eine ziemlich geschickte Vermarktung: Allein in den ersten anderthalb Wochen verkaufte „Die Vier“ sich mehr als 25.000 Mal.

Dabei war bekannt, dass Everts und Walter zusammen mit anderen einen Kriterienkatalog für die Linke aufstellten und trotz ihrer Bedenken bis in den Oktober hinein einen zweiten Anlauf Ypsilantis unterstützten. Auch dass einige der SPD-Pragmatiker über die Gründung einer eigenen Fraktion nachgedacht hatten, war vorher Thema in den Medien gewesen. Wer sollte sich aber ernsthaft darüber echauffieren, wenn gleichzeitig Kochs gebrochene Versprechen über die Schaffung von 100.000 Arbeitsplätzen am Frankfurter Flughafen oder die Verbesserung der Schulpolitik verhandelt wurden oder Details über Ypsilantis Bemühen, bereits im Februar mögliche Abweichler „zu scannen“ bekannt wurden? Neue Erkenntnisse liefert das Buch nicht wirklich, eine Intrige enthüllt es schon gar nicht. Viel eher macht es deutlich, dass auch Journalismus bisweilen ein dreckiges Geschäft ist, ein Kampf um Deutungshoheit und Meinungsmacht unter dem Deckmäntelchen der „angewandten Liebe zum Leben“. Aber um den gleichen Preis wie in der Politik: Glaubwürdigkeit.

Literaturangabe:

ZASTROW, VOLKER: Die Vier. Eine Intrige. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2009. 416 S., 19,90 €.

Weblink:

Rowohlt Verlag

Kerstin Fritzsche schreibt u. a. für die taz nord, das Darmstädter Echo, intro, fluter.de und das Goethe-Institut über zeitgenössische Literatur


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