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Der Meister aus Siena

Duccio – eine Ausstellung und ein Buch

Von: ROLAND H. WIEGENSTEIN - © Die Berliner Literaturkritik, 04.12.03

 

Im Dommuseum zu Siena hängt eines der größten (370 x 450 cm) Altarbilder des Mittelalters, eine "Maestà": Maria mit dem Kind auf einem marmornen Thron, umgeben von Engeln und Heiligen auf Goldgrund. Ihr gegenüber sind die kleinen Tafeln systematisiert, die früher, als diese Tafel noch auf dem Hauptaltar des Domes standen, ihre Rückseite bildeten: fünfundzwanzig Bilder mit Geschichten aus dem Leben Jesu. Einige der Tafeln der Rückseite, der Predella und der Bekrönung der Vorderseite sind inzwischen in europäische und amerikanische Museen gewandert, eine Rekonstruktion des Gesamtwerks bleibt auf plausible Vermutungen angewiesen.

1311 hat die Bevölkerung von Siena dieses grandiose, vom Rat der Stadt und der – ebenfalls städtisch beaufsichtigten – Dombauhütte in Auftrag gegebene Werk im Triumphzug zum Dom begleitet. Sein Schöpfer, Duccio di Buoninsegna (1255-1319) war zu dieser Zeit der anerkannte Meister in Siena. Er unterhielt eine große Werkstatt, mit deren Hilfe er schon Jahre früher die große Fensterrosette des Doms entworfen und die Grisaillen der Gläser eigenhändig überarbeitet hatte. Er malte viele Madonnen, Heilige, Kreuzigungen und andere fromme Bilder in jenem hieratischen "byzantinischen" Stil, der damals die Kunst Italiens beherrschte. Aber er tat dies in einer ihm eigentümlichen, zärtlichen Art, die dem Bewunderer von heute den Eindruck aufdrängt, als atmeten diese Bilder, werde die strenge Ikonographie von einem Hauch von Freiheit durchweht, die sich der verordneten Ikonographie entzieht.

Gelernt hatte Duccio bei dem Florentiner Meister Cimabue (geboren um 1240, gestorben vermutlich 1302), genauso wie Giotto (1266-1337). In einem frühen Madonnenbild Duccios, er war damals vermutlich Dreißig Jahre, glaubt man heute auch die Hand des Jüngeren zu erkennen. Wie eng diese Trias – Cimabue, Duccio, Giotto – zusammengehört, wie sich bei ihnen in einem ersten großen Aufbruch etwas Neues, eine Art "Moderne" ankündigt, das kann man in den Uffizien von Florenz im ersten großen Saal erkennen. Drei überlebensgroße Madonnen, eine von jedem der drei Maler, offenbaren dort Verwandtschaften und Unterschiede.

Der Vater der sienesischen Malerei

Duccio jedenfalls gilt zu Recht als Vater jener sienesischen Malerei, die schon Vasari, dessen Heroen doch Michelangelo und Rafael waren, als bewunderungswürdig pries. Gleichwohl hat es einundachtzig Jahre gedauert, bis Siena seinem größten Meister wieder eine eigene Ausstellung widmete. Beim ersten Versuch 1912 wusste man über Duccio, seine Vorläufer und seine Nachfolger weit weniger, als die Kunstgeschichte seitdem herausgefunden hat. Das ist in einem schweren Katalog versammelt, der aus Anlass der jetzigen Ausstellung veröffentlicht wurde. Er enthält alle ausgestellten Werke in vorzüglichen Farbabbildungen (auch in Detailaufnahmen), erklärt sie mit fabulösem kunsthistorischem Scharfsinn und lässt dabei auch die unendlichen Zuschreibungsstreitigkeiten nicht aus, die die Zunft beschäftigen.

Hin zur Moderne

Das Seltsame an diesem Standardwerk – als das muss es wohl für längere Zeit gelten – ist die unüberbrückbare Kluft zwischen den peniblen Darlegungen der Kunstgeschichtler, die es mit Formen, Farben und ikonographischen Überlegungen zu tun haben, und dem politischen, religiösen und gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem diese Kunst sich entwickelte. Als sei diese vom Himmel gefallen. Die Kunstgeschichte weiß zu unterscheiden zwischen dem "byzantinischen Stil" mit seinen festgeschriebenen Bildtraditionen und der neuen, der "gotischen" Manier, die sie seltsamerweise vor allem darin erkennen will, dass der Thron der Maria statt aus Holz aus Marmor gemacht scheint.

Dass mit dem Neuen nichts anderes gemeint ist, als jene "devotio moderna", die es erlaubte, ja forderte, die heiligen Figuren näher an den Betrachter, an seine Umwelt und sein Fühlen heranzuführen, die an die Stelle des "triumphierenden Christus" – also des noch lebenden Erlösers – den leidenden setzte, einen Jesus, mit dem das schauende Subjekt sich identifizieren konnte, Mitleid und Empathie stärker fordernd, als die in der dogmatisierten Heilsgeschichte festgelegte Zwangsläufigkeit von Tod und Auferstehung, all das, was einen folgenschweren Umbruch in der Mentalität der Gläubigen voraussetzte und zu völlig neuen künstlerischen Ausdrucksformen führte – wird unter dem Rubrum "gotisch" abgehakt, so als wäre es jedermann bewusst.

Duccio erscheint als einer, der genau auf dieser religiösen Wasserscheide ein Werk von erstaunlichem Reichtum und einer unerhörten künstlerischen Raffinesse schuf. In der Ausstellung sind zweiundzwanzig Bilder versammelt – wenn man die vielgliedrigen Altarbilder, die großen wie die "Maestà" und die kleinen wie das kostbare Triptychon, das aus der Sammlung der Königin von England stammt, jeweils unter einer Nummer zusammenfasst. Will man seine Bilder nach dem unmittelbaren Eindruck charakterisieren, so fällt einem spontan etwas ein, das hat mit Kunstgeschichte zunächst gar nichts zu tun: diese Bilder "atmen". Ihre Zartheit, ihre eindringliche Stille, aber auch ihre Erzählfreude in den Predellen, den frommen Geschichten auf der Rückseite der "Maestà" und in den Seitenflügeln der mehrteiligen Bilder machen sie einzigartig schön.

Wie es zu dieser Innigkeit passt, dass ihr Maler in den sorgfältig geführten Rechnungsbüchern der Stadtväter als zu Geldbußen verurteilter Rechtsbrecher erscheint, weil er sich weigerte, dem "capitano del popolo", also vermutlich einem Kriegsfachmann, zu schwören oder selbst Waffendienst zu leisten, davon hätten wir doch gern etwas mehr gewusst. Auch darüber, warum die Erben des berühmtesten Sohns der Stadt, sieben an der Zahl, nach dem Tod des Vaters das Erbe ausschlugen, weil es nur aus Schulden bestand. Dass er für damalige Verhältnisse nicht schlecht honoriert wurde, auch das verzeichnen die Stadtannalen.

Kultur im Ex-Spital

Alles, was die Stadt aus ihrem Besitz, dem zahlreicher Museen und einiger Privatsammler zusammen getragen hat, ist wunderbar ausgestellt in dem berühmten "Ospedale della Scala", das bis vor wenigen Jahren noch ein Krankenhaus war und das nun in überzeugender Weise in eine vielfältig nutzbare kulturelle Einrichtung verwandelt wurde, nach rund zwanzig Jahren sorgfältiger Vorarbeiten und fünfjähriger Umbauzeit. Das Hospital aus dem 13. Jahrhundert gegenüber dem Dom mit seinen zahlreichen späteren Annexen, war einmal das modernste Krankenhaus Europas. Es diente als Raststätte der Pilger, als Waisenhaus für verlassene und ausgesetzte Kinder, es war durch Spenden und Landbesitz und durch eigene wirtschaftliche Betätigung, etwa indem es Geld verlieh, die mächtigste Institution der Stadt geworden – und es gehörte ihr.

Denn – und das erfahren wir im Katalog aus einem glänzenden historischen Aufsatz von Gabriella Piccinni – es unterstand fast von Anfang an einer Stadtregierung, die zwar die Geistlichen ihre frommen Werke tun und Adlige wie Patrizier die Geldgeschäfte weiterführen ließ, die sie im 12. Jahrhundert reich gemacht hatten, sich aber in ihrem von den Bürgern gewählten Stadtrat stets das letzte Wort vorbehielt. Kaum irgendwo hat die glückliche Zeit der italienischen Kommunen einen so reinen – und bis in die Gegenwart reichenden – Ausdruck gefunden. Mochte es auch Streitigkeiten geben, die städtische Solidarität war allemal stärker und mächtiger.

Dann kam 1348 die große Pest, die in Europa bis zur Hälfte der damaligen Bevölkerung in mehreren Wellen ausrottete – und danach war alles anders. In der kirchlichen Dogmatik galt die "devotio moderna" nunmehr als verdächtig, gestand sie doch dem Subjekt eigenes Handeln und Fühlen zu. Die kirchlichen Autoritäten zogen die Zügel an und jene "realistischen" Bilderfindungen, die Giotto in Florenz, Assisi und Padua durchgesetzt hatte und die in Siena auf ganz andere Weise von Simone Martini und den Brüdern Lorenzetti geprägt worden waren wichen konformeren Fügungen, bis in der Florentiner Frührenaissance die Antike wieder entdeckt und eine Kunst etabliert wurde, die ungeachtet ihrer religiösen Inhalte ganz andere Formen und Bildideen (nicht nur die Zentralperspektive) für sich reklamierte, als sie in der Zeit Cimabues, Duccios und Giottos gültig waren.

Duccios Schüler mit breitem Raum

Es gehört zu den glanzvollen Aspekten der Sieneser Duccio-Ausstellung, dass sie auch den Vorläufern und den Künstlern, die in Duccios Schule gelernt haben, den gebührenden Raum lässt. Sie reichen von den erst in den letzten Jahren identifizierten Dietisalvi di Speme und Guido di Graziani bis hin zu dem aus der ersten Schüler-Generation Duccios stammenden Ugolino di Nerio. Mit einigen wenigen Bildern von Martini und den beiden Lorenzettis – Pietro und Ambrogio – schließen Schau und Katalog. So wird eine ganze mittelalterliche Kunstlandschaft überwältigend deutlich. Und in Piccinnis Aufsatz auch die historischen Voraussetzungen, die es brauchte, in der Politik wie in der Wirtschaft Sienas, um diese Explosion von Talenten auszulösen und ihnen die Luft zum Arbeiten zu geben.

In einigen der Bilder hat die Zeit eine uns heutzutage treffende Veränderung bewirkt: durch Zerstörung. So ist in einer Kreuzigung Ugolinos der Goldgrund teilweise zerkratzt und weggewischt, wird darunter der karminrote Malgrund sichtbar (und im Körper Christi das harte Grün, mit dem man Fleisch untermalte) und das gibt dem Bild eine Dramatik, von der der Künstler sich nichts träumen ließ. So erscheint eine Grablegung, die Duccio auf dem Seitenflügel eines kleinen Triptychons dargestellt hat, gerade infolge der Schäden auf der Oberfläche als eine Szene von erschreckender Intensität. In beiden Fällen – und in paar anderen, weniger offensichtlichen – wird unser "moderner" Blick vom Thema weg auf das gelenkt, was dem Bild angetan wurde und damit auf seine Biografie, die es gleichsam unserem eigenen Denken und Fühlen zuführte.

Dass sich die Stadt zu einem sorgfältig bedachten Rahmenprogramm für Schüler aller Altersstufen, für Besucher, die sich länger als nur ein paar Stunden in der Ausstellung aufhalten wollen, darum kümmert, das, was sie mit so viel Mühe, Ehrgeiz und Kennerschaft anbietet, zu "vermarkten" (wenn wir dies denn so nennen wollen), sei bewundernd angemerkt. Derlei der Sache und den "Kunden" dienende Aufmerksamkeit habe ich noch bei keiner der großen Ausstellungen der letzten Jahre so intelligent in Szene gesetzt gefunden.

 

Die Ausstellung

Duccio, Alle origini della pittura senese, Ausstellung in Santa Maria della Scale und Museo dell'Opera, 5. 10. 2003 - 11. 1. 2004, 9-19,30, Fr. u. Sa. 9-22 Uhr

Literaturangaben:
BAGNOLI, ALESSANDRO et al. (Hrsg.): Duccio, Alle origini della pittura senese. Katalog. SilvanaEditoriale, Milano 2003, 540 Seiten, 48 €.

Roland H. Wiegenstein arbeitet als freier Literatur- und Kunstkritiker für dieses Literaturmagazin. Er lebt in Berlin und Italien


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