Der menschliche Körper wurde in der historischen Forschung mehr als stiefmütterlich vernachlässigt. Dabei liefern gerade zeitgeschichtliche Zitate Geistlicher Zeugnis ab über die Widersprüchlichkeit, mit der die physische Existenz des Menschen betrachtet wurde. Papst Gregor der Große spricht vom Körper als dem „abscheulichen Gewand der Seele“ – nichts als verderbliche Hülle also. Paulus hingegen lobt das „Tabernakel des Heiligen Geistes“ und der heilige Franz von Assisi sprach vom „Bruder Leib“. Jacques Le Goff und Nicolas Truong geben in dem vorliegenden Band einen Überblick über diese Ambivalenz.
Weswegen jetzt auch noch ein Titel über den menschlichen Körper im Mittelalter? Reicht die Fülle historischer Romane nicht aus? Gibt es nicht genügend wissenschaftliche Literatur zum Thema? Ja und nein. Denn bisher hat sich die geschichtliche Forschung nicht mit dem menschlichen (Alltags-)Körper befasst und wenig über ihn geforscht und publiziert. Die Körper-lose Wissenschaft hat uns bedeutende Gestalten, Adelige, manchmal Geistliche, Krieger und fast ausnahmslos Männer des Mittelalters vorgestellt. Der Rest war „das Volk“: fleischlos und blutleer hatte es sich durch seine Nachkommenschaft von Adam und Eva qua Geburt versündigt. Wurden da mittelalterliche Tatsachen reproduziert? Die beiden Autoren verschaffen diesem Umstand Abhilfe, indem sie der Geschichte ihren Körper zurückgeben.
Dabei versuchen sie, eine Geschichten des ganzen Menschen zu schreiben, mit all seinen Gefühlen, dem Alltagsdasein, dem Religiösen – eine ganzheitlichere, globalere Geschichtsschreibung, als es sie bisher gegeben hat. Nach ihrer Zeitschrift „Annales“ benannt, widmet sich diese Schule der „longue durée“. Denn die Vorstellungen über den menschlichen Körper, seine gesellschaftlichen Positionierungen haben eine Geschichte, die sich in jeder Epoche bis heute ständig entwickelt.
Die beiden Autoren zeigen auf, wie zerrissen das Mittelalter über die Frage der Bedeutung des menschlichen Körpers war. Nach der griechisch-römischen Antike und ihrem sportlich-gestählten Idealkörper, der in Wettkämpfen und zur Belustigung zur Schau gestellt wurde, herrschte nun verbrämte Askese und adelige Unnachgiebigkeit. Die mittelalterlich-christliche Einstellung war geprägt von Lobpreisung und Demütigung, Glorifikation und Unterdrückung des Körpers. Le Goff legt als ausgewiesener Experte dieser Epoche nahe, dass das Mittelalter, wie keine andere Zeit, unsere heutigen Einstellungen in Bezug auf Einstellungen und Mentalitäten, im Besonderen aber auf „Körpergewohnheiten“ Einfluss genommen habe – weswegen eine Auseinandersetzung mit dieser Körper-Geschichte notwendig wird.
Die Themen des Buches der „Geschichte des Körpers im Mittelalter“ lauten Sexualität, Krankheit, Medizin, Tod, Lachen und Ernährung. Außerdem wird der metaphorische Einzug des Körpers in Systeme von Politik und Religion sowie dem gesellschaftlichen Leben beschrieben. Die theologisch begründete Minderwertigkeit der Frau erläutern Le Goff und Truong ebenso wie die Versuche, die Medizin zu unterdrücken. Da (körperliche) Krankheiten als Bestrafung durch den allmächtigen Gott angesehen wurden, konnte eine Heilung des verderblichen Fleisches eben auch nur durch ihn erfolgen. Die medizinischen Wissenschaften waren per se Gotteslästerung.
Dabei ist die Position der Autoren eindeutig: „Was man allgemein als Mittealter bezeichnet, war in erster Linie eine Epoche umfassender körperlicher Entsagung.“. Das Paradoxon des zwar heiligen, aber eben doch blutenden Leibes Christi gilt als das Leitmotiv mittelalterlichen Körperverständnisses. Zwischen karnevalesker Völlerei und dem Darben der Fastenzeit ist der Verzicht aller Freuden und die Züchtigung und Entsagung aller Versuchungen bestimmendes Motiv dieser Zeit. Etwas flapsig erwähnt der Text hierzu, dass es im Mittelalter keine Blutsbrüderschaft gegeben habe.
Doch eine Abwertung des Körpers habe es im Mittelalter nicht gegeben, konstatieren Le Goff und Truong. Auch den weit verbreiteten Irrglauben der reinen Seele und des versündigten Leibes können sie nicht bestätigen. Sie heben die Ambivalenz hervor, die Zerrissenheit zwischen Regeln und Alltag. Wie bereits anfangs beschrieben, waren sich nicht einmal die Geistlichen in ihrer Deutung des menschlichen Körpers einig. Die Erbsünde wurde im Mittelalter als geschlechtliche Sünde bezeichnet, die Sexualität wurde abgewertet – und damit Körperlichkeit an sich verteufelt.
An manchen pikanten Stellen, etwa der, in der berichtet wird, Homosexualität habe im Mittelalter als Perversion gegolten und sei mit Kannibalismus verglichen worden, wünscht sich der Leser doch bitte geeignete Quellen, die dies belegen können. Auch auf die Gefahr hin, dass der sonst gute und flüssige Schreibstil unterbrochen werden könnte. Dass Sünde auch Beschmutzung ist, ist nun für alle die nichts Neues, die mit christlicher Bigotterie erzogen werden. Doch droht die an sich leichte Lektüre dieses gewichtigen Inhalts an solchen Passagen abzuheben.
Jacques Le Goff war Präsident des „Hautes Etudes en Sciences Sociales“ in Paris und wird als der bedeutendste Vertreter der „nouvelle histoire“ und Haupterbe und Fortsetzer der Annales-Schule bezeichnet. Er ist ein international anerkannter Kenner des Mittelalters.
Nicolas Truong ist Journalist bei „Le Monde de l’Éducation“. Er ist Hauptverantwortlicher für die Rubrik „Bücher“ und war Herausgeber der Zeitschrift „Lettre“.
Literaturangaben:
LE GOFF, JACQUES / TRUONG, NICOLAS (Hrsg.): Die Geschichte des Körpers im Mittelalter. Aus dem Französischen von Renate Warttmann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 230 S., 24,90 €.
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