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Der neue John Irving

„Letzte Nacht in Twisted River“

© Die Berliner Literaturkritik, 26.05.10

Von Carla S. Reissman

Als der zwölfjährige Danny seltsame Geräusche aus dem Schlafzimmer seines Vaters Dominic Baciagalupo hört, gibt es für ihn nur eine einzige Erklärung: Dad wird gerade von einem Bären gefressen. Er packt die gusseiserne Bratpfanne und geht auf das haarige Wesen los, das seinen Vater unter sich begraben hat. Erst als er mit aller Kraft zuschlägt, merkt er, dass es die voluminöse Tellerwäscherin Indianer-Jane mit aufgelösten Haaren ist. Aber in dem Moment ist es zu spät. Sie ist tot.

Durch diese tragische Verwechslung schickt John Irving in seinem neuen Roman „Letzte Nacht in Twisted River“ Vater und Sohn auf eine Odyssee, die mehrere Jahrzehnte dauert. Denn Jane war nicht nur die Geliebte von Dominic, der als Koch in einer heruntergekommenen Holzfäller-Siedlung im New Hampshire der 50er Jahre arbeitet. Sondern auch die Freundin von dem grimmigen Kleinstadt-Polizisten namens Constable Carl. Und der sinnt auf Rache. „Halt die Stellung - aber bleib am Leben“ ist Dominics Motto, das sich durch das Buch zieht.

Im Mittelpunkt der 17 Kapitel steht zwischen dem größten Glück und dem härtesten Verlust die Liebe zwischen Vater und Sohn; Irving widmet das Werk auch seinem eigenen Sprössling Everett („meinem Pionier, meinem Helden“). Sie müssen sich auf ihrer Flucht immer wieder neue Identitäten aneignen - was in Dominics Fall vor allem heißt: neue Rezepte.

Aber es ist vor allem eine Geschichte über den amerikanischen Erfolgsautoren selbst. Denn während der unsteten Wanderungen durch mehrere Staaten Neuenglands, den Mittleren Westen und Kanada entwickelt sich Danny zum Schriftsteller. „Er hatte ein Talent zum Geschichten erzählen“, verkündet der Autor.

Die Details hat Irving seiner eigenen Karriere nicht nur nachempfunden, sondern quasi geklaut: Erst Dannys vierter Roman wird ein Erfolg (bei Irving: „Garp - und wie er die Welt sah“), er gewinnt einen Oscar für das Drehbuch zu einem seiner Bücher (bei Irving: „Gottes Werk und Teufels Beitrag“) und weitere Einzelheiten. Auftritte haben außerdem mehrere zeitgenössische Autoren wie Kurt Vonnegut, John Cleever und Raymond Carver.

Irving schafft sich dadurch in „Twisted River“ die Chance, über sein eigenes Schreiben zu reflektieren. Und sein Arbeits-Ethos zu erklären - vielleicht auch ein bisschen zu entschuldigen? Danny arbeitet wie ein Besessener und nimmt sich nur Zeit für die Menschen, die ihm am Herzen liegen: seinen Vater, seinen Ersatzvater - den knorrigen Holzfäller Ketchum und seinen eigenen Sohn Joe, dessen Geburt ihn davor bewahrt, für Vietnam eingezogen zu werden.

Auch wenn diese Mischung von Fiktion und Wahrheit beim Lesen die Illusion trübt, die anderen genüsslichen Irving-Themen sind trotzdem zu finden: Bären, tragische Ereignisse, Motorräder, verstümmelte Gliedmaßen und verantwortungslose Hundebesitzer. Dazu natürlich jede Menge Gelegenheitssex. „Er hatte so viel verloren, was ihm lieb gewesen war, doch Danny wusste, dass Geschichten Wunder waren - sie ließen sich einfach nicht aufhalten“, heißt es im Schlusskapitel. John Irving weiß, wovon er schreibt.

Literaturangabe:

IRVING, JOHN: Letzte Nacht in Twisted River. Diogenes Verlag, Zürich 2010, 832 S., 26,90 €.

Weblink:

Diogenes Verlag


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