Sechs Wochen im winterlichen Berlin – es war für Beckett, trotz aller Widrigkeiten, bei allen Geldsorgen und körperlichen Beschwerden, eine sehr intensive Zeit … Während seines Berlin-Besuchs war Beckett fast jeden Tag im Museum, er hat mehrere Filme und drei Theaterstücke gesehen, auch ein Konzert hat er besucht“ – so resümiert Erika Tophoven, die gemeinsam mit ihrem verstorbenen Mann Elmar Tophoven Samuel Becketts Werke ins Deutsche übersetzt hat, ihren Bericht von des Dichters Aufenthalt in der „Reichshauptstadt“, der neben Hamburg längsten Station auf einer ausgedehnten Deutschland-Reise, die mehrere Monate dauerte.
Beckett war gerade dreißig Jahre alt, hatte nach festen Jobs in Dublin und Paris beschlossen, als freier Schriftsteller zu leben, bisher waren nur wenige Bücher von ihm ohne sonderliches Echo erschienen und seine Zukunft war ungewiss. Es sollte in der Tat Jahrzehnte dauern - bis nach dem Zweiten Weltkrieg - ehe er mehr als nur wenigen bekannt und schließlich berühmt wurde.
Auf Entdeckungstour
Deutschland hatte, als er 1936 zu seiner Reise aufbrach, die Olympischen Spiele hinter sich, das Regime war nicht gewillt, weiter viel Rücksicht auf das Ausland zu nehmen. Beckett nahm es wahr. Am 11. Dezember 1936 war er in Berlin eingetroffen, nach wenigen Tagen in einem Hotel kam er in einer Familienpension in der Budapester Straße unter, wo es weniger kostete – seine Mittel waren sehr begrenzt, er aß meist in billigen Kneipen. Zudem plagte ihn eine schwere Furunkulose. Das hinderte ihn nicht, sich jeden Tag auf Entdeckungstour zu begeben, auf weiten Fußmärschen erkundete er die Berliner Innenstadt, den „neuen Westen“, die Umgebung: Potsdam etwa.
Das Alleinsein war er gewohnt – es gehörte zu seinem Lebenskostüm, er pflegte nur mit wenigen Menschen Umgang, seinem Zimmerwirt, zwei jungen Buchhändlern, gelegentlich in weiblicher Begleitung von „bitches“, die auf ihn kaum Eindruck machten – sie wurden nur, wie alles andere, was ihm begegnete in einem ausführlichen Tagebuch verzeichnet, dem „Whoroskop“, das erst jüngst von seinem Neffen Edward freigegeben wurde.
Noch ist es nicht vollständig entziffert oder gar kritisch publiziert, aber Erika Tophoven konnte es einsehen und in langer, penibler Arbeit Becketts Wege in Berlin gleichsam nachgehen, bewaffnet mit den entsprechenden Seiten dieses Notizheftes und alten Stadtplänen, sie verifizierte die Kunstwerke, die Beckett damals gesehen und zu denen er im Allgemeinen nur knappe Bemerkungen gemacht hatte, sie fand Ansichtskarten, die einen Eindruck von der Zeit vermitteln, als der Ernst-Reuter-Platz noch „Knie“ hieß und der Breitscheidplatz Auguste-Viktoria-Platz.
Moderne Bildungsreise
Dort befand sich das „Romanische Café“, das seinen Glanz als Treffpunkt von Schriftstellern und Künstlern längst verloren hatte: seine Habitués waren zu einem großen Teil emigriert oder, schlimmer noch, verhaftet. Auf politische Diskussionen hat sich Beckett nicht eingelassen, die konfusen Reden des kleinen Nazis, bei dem er logierte, verzeichnet er gleichwohl ebenso wie ihn besonders anwidernde Beispiele der Nazipropaganda, etwa den „Eintopf-Sonntag“ und die Sammelei fürs „Winterhilfswerk“. Es waren wohl nicht bloß das häufig schlechte Wetter und seine Krankheit, die ihm den Zugang zur Stadt schwer machten.
Und doch ist er gefesselt: „Die Stadt kommt mir etwa wie eine geschwätzige Sphinx vor, die außer der Inkonsequenz ihrer Erscheinung kein Rätsel aufzugeben hat. Eine männliche, ja bärtige Sphinx, wie man sie im Tell Halaf Museum bewundern kann. Dem Löwen gehört Unter den Linden, dem Menschen die Museumsinsel, die Flügel aber bildet der Himmel, dessen Todeskämpfe, die freilich mehr wie Umarmungen aussehen, beinah so schön sind wie jene allerdings mehr schleichenden, die man auch nach den finstersten Tagen von O’Connell Bridge in Dublin anschauen kann.“ Eine so seltsame wie schöne Metapher für Berlin!
Die Museen haben ihn fasziniert (auch das im Krieg zerstörte Tell Halaf Museum für frühe nahöstliche Kunst). Er hat die Bilder systematisch „durchgenommen“, lange angesehen, zu beinah jedem einen knappen Kommentar in seinem Büchlein notiert; Bemerkungen, die von Kennerschaft und einem untrüglichen ästhetischen Geschmack zeugen. Er hat sich die entsprechenden Bücher besorgt, Berlin war ganz offensichtlich Teil einer modernen „Bildungsreise“, die der Dichter als Arbeit begriff. Er hat eine ganze Reihe von deutschsprachigen Büchern gelesen, Kunstgeschichtliches, aber auch Literatur, etwa Hermann Hesse und Hans Carossa, die ihm beide nicht gefielen, und Gottfried Keller, dem er mehr abgewinnen konnte: die Liste jener deutschen Bücher, die er gekauft hat, ist lang.
Porträt in düsterer Zeit
Bevor er ins Theater ging, etwa zu Grillparzers „Gyges und sein Ring“, hat er das Stück gelesen. Auch eine Kritik zu einem Konzert, das Eugen Jochum dirigierte, ist so knapp wie treffend. Er benutzte, wie Tophoven feststellt, sein Tagebuch vor allem als „Daten- und Faktensammlung“. Manches davon – die Autorin hat die Stellen parat – ist später direkt oder in Anspielungen in sein Werk eingegangen (nicht nur die berühmte Anspielung auf Fontanes „Effi Briest“). Mit den vielen Abbildungen (auch farbigen, die einige der Kunstwerke wiedergeben, über die Beckett sich Notizen machte) hat sie dafür gesorgt, dass Becketts Erkundungen, die sie so ausführlich beschreibt, anschaulich werden.
Der Dreißigjährige ist ungemein wissbegierig – und genau. So wird aus seinem Tagebuch und dessen Aufbereitung auch so etwas wie ein Porträt Berlins in einer düsteren Zeit, gesehen von einem gebildeten, kunstsinnigen Intellektuellen, getreulich nachgezeichnet von einer Autorin, die Beckett aus jahrzehntelanger Zusammenarbeit besonders gut kennt, die sich aber alle nicht von den Zeugnissen gedeckten interpretativen Spekulationen verbietet. (Man muss ihr auch dafür dankbar sein.)
Nach dem Krieg ist Beckett noch mehrere Male in (West-)Berlin gewesen und hat einige seiner Stücke selbst am Schiller-Theater (das als solches von der Stadt „abgewickelt“ wurde) inszeniert. Aber das ist ein anderes Kapitel.
Literaturangaben:
TOPHOVEN, ERIKA: Becketts Berlin. Nicolai Verlag, Berlin 2005. 143 S., 24,90 €.
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