Von Roland H. Wiegenstein
Vermutlich ist der „Schelmenvogel“ ein phantasievoller Neologismus des Übersetzers Gennaro Ghiradelli, der Natalie Zemon Davis’ Buch „Leo Africanus – ein Reisender zwischen Orient und Okzident“ ins Deutsche übertragen hat. Im Original heißt es „A Trickster Travels“, und ein Trickster (als Fremdwort hierzulande zwar möglich aber wenig gebräuchlich), das ist jemand, der andere hinters Licht führt.
Sich auf eine solche (geschichtlich verbürgte) Figur mit schwankender Identität einzulassen, das lag für die bedeutende Kulturwissenschaftlerin Zemon Davis nicht fern, hatte sie doch das Verfahren, mit akribischer Recherche einen spektakulären „Fall“ aufzuklären, in der Geschichte des Martin Guerre schon einmal verwendet: jenes Mannes, der im 16. Jahrhundert sogar die eigene Ehefrau getäuscht hatte, als er nach langer Abwesenheit ins Languedoc zurückkehrte, versehen mit der angenommenen Identität eines Toten. Er war schließlich doch entlarvt worden.
Davis (geboren 1928, Professorin in Berkeley, Oxford und Princeton, Gast an zahlreichen Universitäten der westlichen Welt), hätte sich kaum ein adäquateres Thema für ihr Alterswerk aussuchen können als die Geschichte von Al-Hasan-Ibn Muhammad-Al-Wazzan alias Yuhanna-al-Asad, alias Giovanni Leone alias Leo Africanus, auch er eine Figur aus dem frühen 16. Jahrhundert.
Ihr Held wurde vermutlich 1485 in Granada geboren, flüchtete mit seinen begüterten Eltern 1492 (nach der Eroberung der Stadt) ins marokkanische Fez, studierte und diente dem dortigen Sultan als Diplomat, bereiste als solcher andere muslimische Höfe Nordafrikas, durchquerte die Sahara bis Timbuktu und stieß noch weiter nach Süden vor. Er kannte Kairo und selbst Istanbul, als er 1519 von spanischen Piraten gefangengenommen und als besonders kostbare Beute – dass es sich bei ihm um einen Würdenträger handelte, hatten seine Kidnapper sofort erkannt – Papst Leo X. geschenkt wurde. Der ließ ihn zunächst in die Engelsburg einsperren, vermutlich nicht in deren düstere Verliese, sondern in die vergleichsweise bequemen Räume der oberen Etagen der Fluchtburg.
Der Papst und seine Kardinäle fragten ihn aus und bedienten sich seiner Kenntnisse Nordafrikas. Der Gefangene lernte Italienisch, Latein und den katholischen Katechismus und wurde im Januar 1520 von Leo X. persönlich getauft. Er durfte die Engelsburg verlassen, diente dem vatikanischen Hof und hohen Adligen wie dem Fürsten von Carpi als Übersetzer aus dem Arabischen, und er verfasste selbst einige Bücher in einem zwar nicht makellosen, aber brauchbaren Italienisch: vor allem eine „Beschreibung berühmter Männer“ und eine „Geografie“ des nördlichen Afrika, die nach einer – nicht vollständig erhaltenen wörtlichen Kopie – 1550 in Venedig gedruckt wurde. Der Herausgeber Ramusio hatte sie freilich im Blick auf christliche Leser „bearbeitet“.
Nach dem „Sacco di Roma“ im Jahre 1527, als Truppen Kaiser Karls V. die Heiligen Stadt gründlich verwüsteten, floh Giovanni Leo alias Yuhanna-al-Asad (wie er sich nach seiner Taufe nannte). Er kehrte zurück nach Nordafrika und ließ sich in Tunis nieder, wo die Rekonversion zum Islam offenbar schmerzloser zu bewerkstelligen war. Dort soll er, will man Davis glauben, um 1534 gestorben sein. (Die Enzyclopaedia Britannica gibt als vermutliches Todesdatum 1554 an.) Seine „Beschreibung Afrikas“ wurde in den folgenden Jahrhunderten (in je anderen Versionen mit anderen Schwerpunkten) immer wieder publiziert: Leo Africanus diente dem Abendland als Quelle – von seinem späteren Leben in Tunis fehlt jedes schriftliche Zeugnis.
Natalie Zemon Davis hat alles studiert, was über ihn bekannt ist, wie legendenhaft es auch sein mochte. (Der bibliografische Nachweis der Primär- und Sekundärliteratur füllt eng bedruckte zwanzig Seiten!) Was sie fasziniert, ist die Gestalt eines „Tricksters“ oder eines „faqih“ (was Rechtsgelehrter bedeutet: al-Wazzan hatte auch einmal als Kadi agiert), der ein „taqih“ war, also einer, der seinen wahren Glauben unter Zwangsbedingungen verheimlichen musste. Denn dass Wazzan, Yuhanna, Leo in seinem Herzen ein Moslem geblieben ist, daran hat sie keinen Zweifel.
Was Zemon Davis interessiert und was sie mit einer Fülle von Belegen aus allem Erhaltenen beweisen kann (auch wenn sie vorsichtig immer wieder in der Möglichkeitsform schreibt, mit vielen „vermutlich“ und „vielleicht“), ist die Art und Weise, in der ein gelehrter Araber von den eigenen Reisen und Erfahrungen so erzählt, wie es die islamischen Philosophen, Dichter, Reisenden zu tun pflegten: Sie sahen sich in einer nie unterbrochenen Überlieferungskette vom Koran bis in ihre Tage und lebten ihre große Phantasie nur innerhalb dieses Traditionsrahmens aus. Für sie zählten dabei auch das Hörensagen, die Rechtsauslegungen wie Mythen der jeweiligen Stämme, Sultanate, Glaubensrichtungen, die komischen und zänkischen Geschichten, all das, was al-Wazzan auf seinen großen Reisen vor seiner Gefangenschaft zugetragen worden war.
Aber der getaufte Leo, dieser Yuhanna-al Asad stand ja auch mit europäischen Gelehrten, Theologen, Philosophen in engem Kontakt und übernahm von ihnen eine ganz andere, weniger poetische, weit prosaischere Art, die Welt zu beschreiben. Statt des gebräuchlichen„Ich“ arabischer Provenienz, schrieb er von ich als dem „Compositore“, also in der dritten Person. Er kannte sich durch seine Übersetzungen (auch des Korans!) in beiden Kulturen und Zivilisationen aus – und schrieb darüber in diesem nur ihm eigenen Mischstil. Bei ihm gibt es keine Kreuzzugsideologie, nur Rechtgläubigkeits-Debatten, er lässt alle drei „Buchreligionen“ gelten: die jüdische, die christliche und die muslimische.
Kritik äußert er nur selten. Eine einzige respektlose Bemerkung über den Propheten, die in den sonst so um Ausgleich gemühten Schriften Leos auffällt, ist Davis mehrere Seiten wert, hält dieser doch Muhammads Kennzeichnung Alexanders des Großen (im Arabischen: Iskandar) für eine „Tollheit“ – in den Augen rechtgläubiger Muslime eine Todsünde. Davis vermutet, dass Yuhanna-al-Asad dabei nicht nur die Auslegungsstreitigkeiten innerhalb des Islam vor Augen standen (die vor dem Koran endeten), sondern auch die streitbaren theologischen Interpretationen in der westlichen Welt und die talmudischen Spitzfindigkeiten, die er bei seinen klugen jüdischen Freunden und Gesprächspartnern in Italien kennengelernt hatte.
Jedenfalls galt sein Afrika-Buch – mehr noch als seine Beschreibungen berühmter Männer, in denen auch Christen und Juden auftauchen! – als eine wichtige Quelle, aus der das Abendland etwas vom Orient lernen konnte: für die Kriege, die beide gegeneinander führten wie für die christliche Obsession, Irrgläubige zu missionieren.
Davis Buch enthält viele Passagen, in denen die Differenzen zwischen verschiedenen Religionen, Weltsichten, Machtinteressen penibel ausgebreitet werden, so wie sie ihr Held ausführlich (manchmal missbilligend) beschreibt. Er ist so etwas wie ein aufgeklärter Moslem. Eine Seltenheit im damaligen Europa. Und das, obwohl doch der intellektuelle Austausch zwischen Europa und dem Orient damals ebenso funktionierte wie ein schwunghafter Handel und das machtpolitische Ränkespiel, das sogar befristete Allianzen zwischen Feinden erlaubte, wenn es darum ging, sich einen Vorteil über die jeweiligen Gegner im eigenen Lager zu verschaffen.
Was „Leo Africanus“ spannend macht, ist Davis lebhaftes Interesse für Bräuche und Legenden, für die psychologischen Unterschiede und die differierenden schriftstellerischen Verfahren: Sie will nicht nur alles über Leo den Autor wissen, sondern vielmehr auch möglichst viel darüber, wie dessen Zeitgenossen dachten und reagierten. So „erzählt“ sie alles was sie an „Geschichte“ herausgefunden hat in Geschichten jeder Farbe, wechselt den Tonfall und die Argumentationsweise wie die Namen, die sie ihrem Helden, diesem ihr so sympathischen Schelmenvogel, gibt.
Je nach den Umständen, in denen er sich gerade befindet, bekommt er auch den Namen, den er zu der Zeit gerade trägt. Das ist zunächst für den Leser verwirrend, aber man gewöhnt sich daran und begreift die Plausibilität des Verfahrens, das Lokalkolorit erlaubt und von Davis Neigung zeugt, ein ähnliches Verwirrspiel zu betreiben, wie es al-Wazzan wohl betrieben haben muss, um in zwei so verschiedenen Welten ohne Anklage der Häresie nicht nur zu überleben, sondern in Freiheit nachdenken und schreiben zu können. Im Westen blieb Leo präsent, wenn auch in instrumentalisierter Form. Kritische Ausgaben, gar eine genaue Untersuchung jener wörtlichen Kopien, die als einzige Primärquellen dienen können, ließen lange auf sich warten. Davis hat diese kritische Arbeit sehr viel weiter gebracht.
Im Maghreb verliert sich a-Wazzans (Yuhanna-al-Asads) Spur nach dessen Rückkehr völlig. Er war zur Unperson geworden, auch wenn man ihn als Doppelkonvertiten wohl nicht direkt verfolgte, er vielleicht in Tunis eine seinem Rang entsprechende Betätigung fand. Er blieb gleichwohl das, was im Spanien der Inquisition die Marranen blieben, die zum Christentum gezwungenen und stets in Gefahr schwebenden Juden. Yuhanna ist auf keinem Scheiterhaufen geendet. (Davon gäbe es nämlich Spuren in den Dokumenten.)
Es ist offensichtlich, dass es auch dieser Unterschied war – neben der Attraktion durch eine faszinierende Figur in einer Umbruchszeit – den Davis betonen wollte. Sie setzt dem „Kampf der Kulturen“ bis auf Messer, der schon damals tobte, eine Beispielgeschichte entgegen: Anderes war möglich, Ausgleich, Verständnis, Respekt. Ihr „Trickster“ war nicht nur ein vorsichtiger, er war ein weiser Mann.
PS: Bei der Herstellung des Buchs ist in den Anmerkungen ein verwirrender Fehler passiert: Es fehlt eine der Kapitelüberschriften des Textes, doch die Nummerierung ist gleichwohl richtig.
Literaturangaben:
ZEMON DAVIS, NATALIE: Leo Africanus – ein Reisender zwischen Orient und Okzident. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008. 400 S., 36 €.
Mehr von „BLK“-Autor Roland H. Wiegenstein