Von Julia Mannagottera
Haben Sie sich schon einmal Gedanken über die Bewohner eines Mietshauses in Paris gemacht? Was für eine komische Frage, werden Sie denken, doch genau darauf beruht dieser ungewöhnliche Text. Schauen wir sie uns doch einmal näher an, die Mieter. Da wären ein Mädchen, ein Moderator, ein Schriftsteller, ein Hund und eine alte, einsame Dame. Die eine sieht einen Engel, der andere verliert sich in der Philosophie, der nächste will sein Herrchen retten und die letzte ist auf der Suche nach Freundschaft. Obwohl das noch nicht alle Protagonisten der neun Episoden sind, wird trotzdem deutlich: unterschiedlicher geht es nicht.
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als würden die neun Geschichten keinen Bezug zueinander haben, beweist das Buch das Gegenteil, denn überall spielt einer die Hauptrolle: der mysteriöse Schuh. Wie der Titel schon verrät, liegt er auf einem Dach, und zwar auf dem des Mietshauses, gut sichtbar von den Wohnungen der Hauptpersonen. Jede von ihnen hat einen anderen Blickwinkel auf den Schuh und damit auch auf dessen Herkunft.
„Was ist die Wahrheit dieses Schuhs“? Das ist die Frage, die sich bei der Lektüre immer wieder stellt. Kaum bekommt der Leser den Eindruck, die Lösung in den nächsten Zeilen zu entdecken, wirft Delecroix neue Rätsel auf und lässt ihn wieder ins Leere laufen, so dass die Spannung ins Unerträgliche gesteigert wird. Zudem wird ein verworrenes Netz zwischen den Geschichten gewebt, in dem die einzelnen Protagonisten früher oder später wieder und wieder auftreten, wenn auch nur als Nebenfiguren oder in Erzählungen aus dem Mund der Hauptfiguren.
Doch hat es den Anschein, als wolle Delecroix seine Leser noch mehr fordern, denn scheinbar hat nichts Kontinuität, es wimmelt nur so von versteckten Andeutungen und Hinweisen, die aber eher in die Irre führen, als Klarheit zu schaffen. Häufige Erwähnungen von historischen Persönlichkeiten und deren Werken erfordern Kombinationsfähigkeit und Hintergrundwissen, was die Lektüre ab und an bremst.
Doch die Auswahl ist nicht willkürlich, sondern steht in Verbindung mit dem Inhalt der Geschichten, dem Buch und dem Autor selbst. Er schreibt von Büchern, die dem Aufbau seines eigenen ähneln, er bedient sich im Arsenal des Märchens oder der Bibel, übernimmt Mythen aus der Antike und gestaltet sie auf seine Weise um. So greift er auf Sophokles zurück und nennt einen vergessenen Verbrecher, der auf dem Dach von seinen Gefährten bei einem Raubzug zurückgelassen wurde, Philoktet. Delecroix spielt mit den Perspektiven, springt von einem Extrem ins andere, von der Umgangssprache zur philosophischer Fachsprache, von Erinnerung zu tatsächlichem Geschehen.
Aber auch der Autor scheint sich selbst in Szene zu setzen und mit seiner Identität zu spielen, doch selbst da darf man sich nie sicher sein. So heißt der verliebte Schriftsteller, der auf einer Party seine Traumfrau sieht, Vincent, genauso wie der schwule Feuerwehrmann, der sich mit der alten Dame anfreundet. Ebenso lässt er die Figuren in ironischem, teils schon verächtlichem Ton von dem Buch selbst reden: So sagt die alte Dame, die sich über den Schuh auf dem Dach tagtäglich ärgert, dass dieses Ärgernis schon Thema genug für ein Buch sei.
Mit dem „Schuh auf dem Dach“, der lange auf der französischen Bestsellerliste platziert war, liefert Delecroix eine besondere Form von Episodenroman, der mit seinen vertrackten Konstellationen und seiner bunten Vielfalt an Themen dazu anregt, „über das Leben der Menschen zu sinnieren, über die Gefahren, die es birgt, über die menschliche Gemeinheit und Verletzlichkeit, über die unterschiedlichen Grade der Menschlichkeit“ und nebenbei das Rätsel des Schuhs zu lösen, was zwar einige Ausdauer erfordert, doch dank ständiger Überraschungen und Denkanstöße beste Unterhaltung bietet.
Diese Rezension ist in Zusammenarbeit mit Studenten des Romanischen Seminars der Uni Bayreuth entstanden. Außerdem danken wir dem Ullstein Verlag für die freundliche Bereitstellung eines Rezensionsexemplars.
Literaturangabe:
DELECROIX, VINCENT: Der Schuh auf dem Dach. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Ullstein Verlag, Berlin 2009. 217 S., 16,90 €.
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