BERGISCH GLADBACH (BLK) – Der Roman „Die Flügel der Sphinx“ des italienischen Autors Andrea Camilleri ist im Oktober 2009 im Gustav Lübbe Verlag erschienen. Er wurde von Moshe Kahn aus dem Italienischen übersetzt.
Klappentext: Der Mord an einer jungen Frau bereitet der Polizei im sizilianischen Vigàta Kopfzerbrechen. Es gibt keine Hinweise auf die Identität des Opfers und das Gesicht ist vollkommen entstellt. Einziger Anhaltspunkt ist ein Tattoo auf der linken Schulter: ein Schmetterling. Als Commissario Montalbano der Sache nachgeht, findet er heraus, dass die Unbekannte zu einer Gruppe junger Russinnen gehörte, die von einer Institution namens Der gute Wille nach Italien gelockt worden war. Angeblich wollte man die Frauen mit einer seriösen Anstellung vor der Prostitution retten, die ihnen in ihrer Heimat gedroht hätte. Der Padrone des Vereins ist Montalbano trotz „guten Willens“ vom ersten Augenblick an unsympathisch. Dass ihn sein Bauchgefühl nicht trügt, hebt seine Laune nur bedingt, denn was nun folgt, hätte Montalbano sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen ausgemalt.
Andrea Camilleri wurde 1925 auf Sizilien geboren. Lange Jahre arbeitete er als Essayist, Drehbuchautor und Regisseur sowie als Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom, wo er heute noch lebt. Camilleri hat zahlreiche historische Roman verfasst, der große Erfolg kam schließlich mit seiner Krimireihe um Kommissar Montalbano. Mittlerweile ist der vorliegende Roman der elfte Fall seines Helden. (kum/dan)
Leseprobe:
©Gustav Lübbe Verlag©
Wohin nur waren die frühen Morgenstunden entflohen, in denen er sich schon beim Aufwachen wie von einem reinen, grundlosen Glück durchströmt fühlte?
Dabei ging es gar nicht darum, dass der Tag sich wolkenlos, windstill und nur voll Sonnenschein zeigte, nein, es war ein völlig anderes Empfinden, das nichts mit seiner Neigung zur Wetterfühligkeit zu tun hatte; wenn man es erklären wollte, war es, als hätte er sich in Einklang mit der gesamten Schöpfung befunden, in vollkommener Übereinstimmung mit der großen Sternenuhr, die genau in der Mitte des Weltenraums angebracht war, just an dem Punkt, der vom Augenblick seiner Geburt an für ihn bestimmt war. Blödsinn? Fantastereien? Möglicherweise.
Doch was sich nicht wegdiskutieren ließ, war, dass er dieses Gefühl früher häufig hatte, während es jetzt schon seit einigen Jahren einfach weg war. Verschwunden. Ausgelöscht. Genauer gesagt, riefen die ersten Morgenstunden jetzt oft Unbehagen in ihm hervor, einen instinktiven Widerwillen gegenüber dem, was ihn erwartete, wenn er sich denn mit der Aussicht auf den neuen Tag abgefunden hatte, auch wenn ihm im Lauf des Tages gar nichts Schlimmes begegnete. Und die Bestätigung dafür lieferte sein Befinden unmittelbar nach dem Aufwachen.
Jetzt öffnete er die Augenlider nur kurz und schloss sie gleich wieder und verharrte so noch ein paar Sekunden im Dunkeln, wohingegen er früher, sobald er die Augen aufschlug, sie auch offen hielt, ja, sie sogar beinahe aufriss, um gierig das Licht des Tages einzufangen.
Das, dachte er, hat ganz sicher etwas mit dem Alter zu tun.
Doch gegen diese Feststellung rebellierte auf der Stelle Montalbano Nummer zwei.
Denn schon seit ein paar Jahren lebten im Commissario zwei Montalbanos, die unentwegt im Clinch miteinander lagen. Sobald der eine etwas sagte, behauptete der andere das Gegenteil. Und so war es auch jetzt.
„Was soll denn das mit dem Alter?“, sagte Montalbano Nummer zwei. „Wie kann es denn sein, dass du dich mit sechsundfünfzig alt fühlst? Willst du die wahre Wahrheit hören?“
„Nein“, sagte Montalbano Nummer eins.
„Ich sag sie dir aber trotzdem. Du willst dich alt fühlen, weil es dir in den Kram passt. Und weil du deiner selbst überdrüssig geworden bist, zimmerst du dir jetzt dieses Alibi mit dem Alter zurecht. Aber wenn du dich so fühlst, warum reichst du dann nicht als Allererstes eine schöne schriftliche Kündigung ein und schaffst dir alles vom Hals?“
„Und was mache ich dann?“
„Du spielst den Alten, schaffst dir einen Hund an, der dir Gesellschaft leistet, gehst morgens raus, kaufst die Zeitung, setzt dich auf eine Bank, lässt den Hund von der Leine und fängst an zu lesen, am besten zuerst die Todesanzeigen.“
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Literaturangabe:
CAMILLERI, ANDREA: Die Flügel der Sphinx. Übersetzt aus dem Italienischen von Moshe Kahn. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2009. 271 S., 9,99 €.
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