ZÜRICH (BLK) – Die literarischen Reiseberichte von Iwan Bunin sind im August 2008 bei Dörlemann unter dem Titel „Der Sonnentempel“ erschienen.
Klappentext: In den farbenprächtigen, poetischen Reisebildern des „Sonnentempel“ beschwört Iwan Bunin die Magie der Orte und die Faszination des Unterwegsseins im Orient. Die sowohl sinnlichen als auch präzisen Beschreibungen sind verwoben mit Bildern aus der mythischen und realen Vergangenheit, aus der Bibel, dem Koran und der Dichtung. Weitere Erzählungen aus den Jahren 1897–1924 zeigen Bunin auf einer Frachtschiffahrt durch den Suez-Kanal, in den Glarner Alpen, in Tempelanlagen auf Ceylon, bei den Opferaltären von Baalbek und in der ukrainischen Steppe. Es war für ihn eine der größten Entbehrungen, daß er, der die ganze Welt gesehen hatte, als Emigrant aufs Reisen verzichten mußte.
Iwan Bunin, geboren 1870 in Woronesch, emigrierte 1920 nach Paris. Am 10.12.1933 erhielt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur. Er starb am 8. November 1953 im französischen Exil. In deutscher Übersetzung erschienen „Ein unbekannter Freund“ (2003), sein Revolutionstagebuch „Verfluchte Tage“ (2005) und seine literarischen Reisebilder in dem Band „Der Sonnentempel“ (2008). Die Veröffentlichung seines Romans „Das Leben Arsenjews“ ist in Vorbereitung. (mir)
Leseprobe:
©Dörlemann©
Der Schatten des Vogels
Der zweite Tag auf dem verlassenen Schwarzen Meer. Anfang April, am Morgen ist es frisch und bewölkt. Die Luft ist durchsichtig, die Farben sind ein wenig wild. Ein Schwarm rotbeiniger Möwen begleitete uns gestern lange Zeit, segelte mit weitgespannten, spitzen Flügeln lange Zeit dahin, spähte auf die langgezogene Malachitspur hinter dem Heck. Die niedrigen, flachen Ufer Neurußlands verschwanden noch am Mittag. Gegen Abend waren auch die Möwen verschwunden …
Quocumque adspicas nihil est nisi pontus et aer …
Der graublau-purpurrote Sonnenuntergang war kalt und trübe. Das Lämpchen, das noch beim Licht des Sonnenuntergangs an der Mastspitze aufgeflammt war, brannte trist wie ein Grablicht. Ein unangenehmer Wind, der von Steuerbord kräftig blies, hatte frühzeitig alle von Deck vertrieben, und der klobige schwarze Schornstein schrie heiser und stieß Rauchknäuel in den Wind. Die Nacht mit dem trübbleichen Mond und den verschwommenen Schatten, die von den Wanten und dem Rauch kaum zu unterscheiden waren, war noch kälter …
Laut und unruhig war es gestern morgen gewesen. Mit einem Gefühl freudiger Unruhe war ich in Odessa vom Hügel hinabgestiegen in diese für mich stets aufregende Welt des Hafens – in diese von Masten übersähte Stadt der Agenturen, Kontore, Speicher, Schienenwege, Steinkohle, Waren. Durch den breiigen Frühlingsschlamm, durch Gesindel von Strolchen und kaukasischen Schauerleuten mit ihren Turbanen und Kapuzen und ihren Adleraugen, durch Fuhrleute und Ochsen, die vollbeladene Leiterwagen zogen, und kläglich kreischende Dampflokomotiven kämpfte ich mich vor bis zu dem schwarzen Koloß unseres mit Menschen und Fracht überladenen Dampfers, dessen Wimpel zum Zeichen des baldigen Auslaufens schon im wäßrigen, blassblauen Himmel flatterten. Und wie immer schienen die Stunden der letzten, überstürzten Arbeiten endlos lang, das Trappeln der Füsse auf den Planken, das Getöse der Seilwinden, die gewaltige Lasten über die Köpfe hinwegtrugen, und die grimmigen Befehle der Kapitänsgehilfen.
Doch nun waren die Seilwinden verstummt, die hochgewachsenen Gendarmen waren wie graue Pferde von Bord gegangen, auf den mit Kehricht übersähten Anleger, und der Dampfer stieß mit Getöse die Laufplanken zurück und unterbrach jäh die Verbindung zum Festland. Einträchtig nahm auf dem Schiff alles seinen bestimmten Platz ein – in der nun herrschenden Ruhe, unter dem gläsernen Klimpern des Telegraphen, begann das langsame Auslaufen ins Meer. Das schwere Heck zittert, während es sich sanft vom Anleger löst und schäumende Wirbel hervorstößt, die Möwen kreischen jämmerlich und kämpfen um die roten Krebsschalen im regenbogenfarbig schillernden Spülicht. Vom Ufer her, aus der schwarzen Menge, die nun verstummt ist, und von den Booten winkt man mit weißen Tüchern. Das Ufer weicht immer mehr zurück, wird kleiner. Steuerbords zieht sich schon das steinerne Band der Mole entlang.
Unerwartet ist die Sonne hervorgekommen – hinter uns, hinter den Schornsteinen und Masten, zeichnet sich die Stadt schärfer ab, und vor uns, in den Reflexen des grünen, wogenden Wassers, erstrahlt der weiße Leuchtturm. Dann ist auch der Leuchtturm vorbei, und von seinem Widerschein beglänzt, beginnt sich der Bugspriet langsam und unaufhaltsam gen Süden zu drehen, die breite, brodelnde Spur der Schiffsschraube und der schwarze Rauchschweif darüber beschreiben einen gewaltigen Bogen, das Sonnenlicht und der Wind wechseln die Seiten …
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Literaturangaben:
BUNIN, IWAN: Der Sonnentempel – Literarische Reisebilder. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Dörlemann, Zürich 2008. 416 S., 24,90 €.
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