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Der späte Tizian: Sinnlichkeit und Malerei

Der Katalog zur Wiener Ausstellung wirft ein neues Licht auf Tizians Spätwerk

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 04.03.08

 

In Farbe, Linie und Stimmung sind die figürlichen Darstellungen des 1576 in Venedig an der Pest verstorbenen Malers Tiziano Vecellio, genannt Tizian, eine lyrische Feier des menschlichen Körpers. Vor allem der weiblichen Schönheit hat er immer wieder enthusiastisch gehuldigt. In seinen mythologischen Themen genießt er förmlich die Darstellung üppigen weiblichen Fleisches. Es ist der sinnenfreudige Traum eines Mannes von schönen Frauen in einer Sommerlandschaft, goldgelb und rosa die Haut gegen den blauen Hintergrund.

Der Zusammenklang der Farbe, die außerordentliche Freiheit der Malweise unterscheiden die Bilder in den verschiedenen Schaffens- und Altersphasen voneinander. Tizian starb im hohen Alter. Vermutlich wurde er knapp 90 Jahre alt. Sein Schüler Palma il Giovane hat beschrieben, wie der Meister in seinen letzten Lebensjahren arbeitete: Manchmal ließ Tizian ein Bild lange Zeit unfertig stehen, holte es dann wieder hervor, prüfte es, „als sei es sein Todfeind“, und überarbeitete es. Dabei gebrauchte er seinen Daumen ebenso wie den Pinsel. Wie ein Chirurg sei er mit seinen Bildern umgegangen.

Dennoch hat das Alterswerk mit seiner offenen, unruhigen Malweise, seiner „Fleckenmalerei“, schon damals bei manchem Auftraggeber und Kritiker Irritationen hervorgerufen. Habe denn dem Meister schon die Hand gezittert, habe ihm bereits das Auge versagt? Man sah in Tizians letzten Werken nur Zufallsprodukte, die nach seinem Tod in der Werkstatt zurückgeblieben waren.

Vielen Kritikern ist bis heute nicht bewusst, dass Tizian im Alter – vielleicht auch seine Gebrechen künstlerisch für sich nutzend - eine neue, bahnbrechende Malweise mit sichtbarem Pinselduktus entwickelt hatte. Bei der Betrachtung seiner Bilder aus einer gewissen Distanz schließen sich die „Farbflecken“ zu illusionistisch suggestiven Bildern zusammen. So hat er Werke von einer einzigartigen poetischen Wirkungskraft geschaffen.

Mit ihnen mussten sich nicht nur die jüngeren venezianischen Maler Tintoretto, Veronese und Bassano messen lassen. Sondern auch die großen Meister folgender Jahrhunderte wollten sich damit noch auseinandersetzen. Genannt seien hier Rubens, Rembrandt, Velazquez, Géricault und Delacroix. Später die Expressionisten und nicht zuletzt Oskar Kokoschka, die Künstler der Moderne überhaupt.

Ein seit langem im Kunsthistorischen Museum in Wien und in anderen berühmten Museen mit Tizian-Besitz laufendes Forschungsprojekt hat es ermöglicht, sich weitgehend mit den letzten 25 Schaffensjahren des großen Alten zu befassen. So konnte in Wien durch eingehende naturwissenschaftliche Untersuchungen wie Röntgen- und Infrarotaufnahmen die damals neue Technik der offenen Malweise, mit der Tizian die Pinselstriche bewusst sichtbar machte und der Farbe selbst Aufgaben der Kontur zuwies, buchstäblich durchleuchtet werden.

Aber auch die Genese und Abfolge verschiedener Fassungen derselben oder ähnlicher Motive konnten man klären. Die unglaubliche Modernität des alten Tizian wird nun mit 60 Gemälden im Kunsthistorischen Museum in Wien und anschließend in der Gallerie dell’Accademia in Venedig präsentiert. Fast zwei Drittel der gezeigten Bilder stammen aus illustren Museen, Kirchen und Palästen in Madrid, Paris, Venedig, Florenz, London, Washington, St. Petersburg oder Dresden. Diese exzessive Ausstellung – die bisher teuerste des Hauses – gibt mit zahlreichen Röntgen- und Infrarotaufnahmen zu einzelnen Bildern auch Einblick in die Arbeit der Restaurierungswerkstätten. Die verschiedenen Schichten der jeweiligen Arbeit können vom Betrachter nun studiert werden.

Es ist vor allem aber der von der Kuratorin der Ausstellung, Sylvia Ferino-Pagden, herausgegebene Katalog, der etwa 30 Autoren – Kunsthistoriker, Restauratoren und Mitarbeiter des Forschungsprojektes zu den Gemälden Tizians – zu Wort kommen lässt. Hier wird um Fragen des „Altersstils“ Tizians, des „finito“ oder „non finito“, um die Beteiligung der Werkstatt des Meisters und um die unterschiedlichen Prozesse der Bilderfindungen und ihrer Replizierungen gestritten. Die Experten äußern neue Einsichten über Tizians späte Maltechniken und seinen nahezu alchemistischen Umgang mit Materialien. Berichtet wird auch von den Ergebnissen der Restaurierungen einzelner Werke. Zudem werden die in Wien zusammengetragenen Werke kommentiert, die Fassungen und Versionen einzelner Motive und Themen verglichen und neue bedenkenswerte Schlussfolgerungen getroffen. In dem sichtbaren Pinselstrich des alten, doch so unglaublich modernen europäischen Künstlerfürsten manifestiert sich seine Künstlersignatur.

So hatte sich bei den Restaurierungsarbeiten des späten Hauptwerks der Wiener Sammlungen, „Nymphe und Schäfer“, eine unterschiedliche Gestaltung der einzelnen Bildkomponenten durch einen differenzierten, unterschiedlich sichtbaren Pinselduktus gezeigt. Dieser ist bewusst so aufgebaut worden und kann keinesfalls zufällig entstanden sein. Infrarotreflektographien brachten in den Gemälden überraschende Zeichnungsspuren einzelner Elemente in verschiedenen Medien ans Licht. In vielen Fällen hat Tizian bereits während des Malvorgangs seine Kompositionen verändert. In einem Zeitraum von fast 20 Jahren hat er so Mythen, Poesien und Historien in immer neuen Erfindungen geschaffen.

Durch das Zusammentragen der unterschiedlichen Fassungen und Versionen einzelner Themen sind jetzt in Wien erstaunliche Vergleiche möglich: dreimal „Tarquinius und Lucretia“ (Cambridge, Bordeaux, Wien), zweimal „Danae“ (Madrid und Wien), dreimal „La Bella“ (Wien, St. Petersburg, Florenz) mit Pelz, Federhut und Kleid. In der wohl ersten Fassung (Cambridge) zwingt Tarquinius, mit dem Dolch in der erhobenen Rechten, ein Knie zwischen die Beine des im Bett überraschten, auffahrenden und Widerstand leistenden Opfers, Lucretia, ihm zu Willen zu sein.

Tizian schien es hier noch um Paradoxa ungerechtfertigter Handlungen gegangen zu sein, um die vermessene Nichtachtung der Unerreichbarkeit einer keuschen, schönen Frau. Die Röntgenaufnahmen dieser Fassung machen wichtige, die inhaltliche Aussage zuspitzende, aber letztlich vom Maler verworfene Veränderungen deutlich. Diese Fassung war in ihrer Erotik weniger gewalttätig und wurde von Tizian an seinen königlichen Auftraggeber Philipp II. nach Madrid geschickt.

Dagegen hatte sich der Maler in der nur geringfügig abweichenden Fassung von Bordeaux mehr von seinem glühenden Temperament inspirieren lassen. Denn der Schrecken, der von Tarquinius’ drohender Geste ausgeht, veranlasst hier Lucretia dazu, ihren Kopf mit einem Schrei des Entsetzens abzuwenden.

Demgegenüber ist die dritte, die Wiener Variante die kühnste – eine wahrhafte Allegorie der willkürlichen Gewalt, die sich gegen unschuldige Opfer richtet. Hier überlagern sich – so ergab die Durchleuchtung – die Figuren in zwei Fassungen. Im ersten Entwurf scheint die wehrlose, züchtig bekleidete Frau unter dem Ansturm des Aggressors ihren Halt verloren zu haben und zu stürzen. In der danach ausgeführten Fassung wird die Dramatik zurückgenommen: Lucretia hat in still resignierender Einsicht in die Aussichtslosigkeit ihrer Situation den Kampf aufgegeben. Ihr tragisches Ende wird vorausgenommen. Tizian hat sich hier bewusst der Gestaltungsmittel des „non finito“ bedient, er lässt die Malstruktur und die einzelnen Pinselstriche erkennbar stehen und modelliert nur sehr selektiv Einzelheiten durch.

Die atemberaubende erotische Ausstrahlung der Madrider „Danae“ besteht darin, dass die völlig nackte Danae ihren Oberkörper in einer Weise aufgerichtet hat, als wolle sie sich selbst mit dem aus der Wolke hervorbrechenden göttlichen Licht des Goldregens innig vereinen. In der Wiener „Danae“ dagegen wird die passive und empfängnisbereite Königstochter mit goldenen Münzen (der Währung der Sterblichen) verführt. Ihre Schönheit und Erotik erscheint durch den Kontrast mit der älteren Dienerin bewusst gesteigert, die gierig die Münzen in einer Schale aufzufangen sucht.

Reizvoll ist die Konfrontation mit dem großen flämischen Maler Peter Paul Rubens. Tizians raffinierte „Venus vor dem Spiegel“ (Washington) mit dem Spiel von Verbergen und Enthüllen wurde von Rubens in einer ebenso raffinierten Rückenansicht (Liechtenstein Museum) variiert. Auch Veronese, Tintoretto und Van Dyck griffen diese höchst erfolgreiche Komposition auf.

Und Tizians „Mädchen mit Fächer“ ist in der ersten Version für Spaniens König Philipp II. nur in einer Kopie von Rubens erhalten. Nun kann man dieses Bild des Kunsthistorischen Museums mit einer Originalfassung aus Dresden vergleichen. Es stellt wahrscheinlich Tizians Tochter Lavinia dar und zählt mit seiner Wärme, seiner Intimität zu den schönsten weiblichen Bildnissen des Alterswerks.

„Die Schindung des Marsyas“ (1570-76, Erzbischöflicher Palast Kromeriz) gerät zum Meditationsbild: Apollo lässt den Satyr Marsyas zur Strafe, dass er ihn zum Wettstreit im Flötenspiel herausgefordert hat, an einen Baum aufhängen und bei lebendigem Leibe häuten. In diese erschütternde Darstellung des Leidens und der Grausamkeit hat sich Tizian selbst als schmerzerfüllten und ohnmächtigen Zeugen, der für Marsyas eingetreten war (im Porträt des Königs Midas) einbezogen.

Der Künstler vermag angesichts der gottgewollten Zerstörung sinnlicher Kunst, der Verwobenheit von Farbe, Haut und Fleisch, wie sie hier Marsyas zugeschrieben wird, nur zu resignieren. Die vordergründige, reliefhafte Komposition lässt selbst die geringste Andeutung einer befreienden Aussicht in die Ferne oder Tiefe vermissen. Solche großartigen Werke wie „Die Schindung des Marsyas“ (Kromeriz) oder auch die „Pietà“ (Venedig) erzählen von immer wieder neuen Übermalungen mit kurzen, dick mit Farbe gesättigten Pinselstrichen.

An der Grenze zwischen Leben und Tod hat sich der fast 90-jährige Greis in seinem späten Selbstporträt – im Profil mit dem Pinsel in der Hand – als Prophet der Malerei dargestellt . Ein „Wunderwerk an Genauigkeit und Leichtigkeit“, da ist sich die Kunstwissenschaft einig; die psychologische Studie eines Mannes, der seinem adligen Stand seine Fähigkeiten als Maler zuschreibt. Diese Selbstdarstellung, die einst Rubens gehörte, mutet wie eine Apotheose des „Altersstils“ Tizians an.

Das Außerordentliche, das wunderbar Erheiternde wie tief Erschütternde an den Bildern dieses europäischen Malerfürsten ist, dass sie der Sinnenfreude zugewandt sind, dass sie dem sterblichen Leben positiv gegenüberstehen. Tizian feierte das Leben voller Leidenschaft und feierte vor allem die Gabe des Sehens, selbst wenn das Erblicken (etwa des geschundenen Marsyas) Furchtbares nach sich zieht.

Literaturangaben:
FERINO-PAGDEN, SYLVIA (Hrsg.): Der späte Tizian und die Sinnlichkeit der Malerei. Kunsthistorisches Museum Wien, Wien 2007. 398 S., 35 €.

Weblink

Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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