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Der Tod einer Flusslandschaft

Anne Michaels neuer Roman "Wintergewölbe"

© Die Berliner Literaturkritik, 08.06.09

BERLIN (BLK) — Im April 2009 erschien im berlin Verlag Anne Michaels Roman „Wintergewölbe“.

Klappentext: Sie begegnen einander in einem Fluss ohne Wasser. Jean durchstreift das verwaiste Bett des St.-Lorenz-Stroms, sammelt Pflanzen, letzte Zeugnisse einer Landschaft, die es so nicht mehr geben wird. Niemand weiß das besser als Avery, der als Ingenieur maßgeblich an der Flussbegradigung beteiligt war, und nun erst schuld bewusst die Tragweite des Eingriffs ermisst. Sie begegnen sich — es ist Liebe auf den ersten Blick. Und als Avery zu einem neuen Auftrag gerufen wird, gehen sie gemeinsam nach Ägypten, leben in einem Hausboot auf dem Nil, der hier bald zum gewaltigen Nassarsee gestaut werden soll. Averys Aufgabe ist es, den Abu Simbel Tempel zu versetzen, zu bewahren vor dem Versinken in der künstlichen Flut, der ganze Dörfer zum Opfer fallen werden. Die Fragwürdigkeit dieses Rettungsaktes im Angesicht von Zerstörung und Vertreibung wird beiden mit jedem Tag deutlicher, doch Jean und Avery finden keine Sprache für ihr Unbehagen. Sie flüchten sich in die Beschwörung ihrer Nähe, ihrer Liebe. Nacht für Nacht erzählen sie einander die Geschichte ihrer Herkunft, ihrer Familien und kommen sich dabei abhanden, noch bevor sie selbst ein schwerer Verlust trifft, der alles verändert.

Anne Michaels wurde am 1958 in Toronto geboren. Seit Jahren unterrichtet sie „Creative Writing“ an der University of Toronto. (köh/mül)
 

Leseprobe:

©Berlin Verlag©

„Generatoren beleuchteten den Tempel mit Flutlicht. Ein grausiges Bild der Verwüstung. Tote lagen offen herum, dazwischen verstreut Glieder in grässlich verrenkten Stellungen. Alle Könige waren enthauptet, die hochherrschaftlichen Hälse mit einer Diamantsäge durchschnitten, die stolzen Körper verstümmelt von Kettensägen, Drillbohrern und Drahtzangen. Die breiten Stirnen aus Stein wurden von Stahlträgern gehalten, mit denen sie durch Kunstharz verbunden waren. Den ganzen Tag über sah Avery immer wieder Männer in den Windungen eines Königsohrs verschwinden, einen Schuh in einem königlichen Nasenloch verlieren oder im Schatten eines königlichen Schmollmunds einschlafen.

Jeder Arbeiter hatte pro Tag eine Schicht von acht Stunden, und jeder Tag war in drei Schichten eingeteilt. Nachts saß Avery an Deck des Hausboots und berechnete immer wieder den wachsenden Druck auf das verbleibende Felsgestein, prüfte bei jedem Schnitt immer wieder, ob er an der richtigen Stelle ausgeführt worden war, wo Schwachstellen lagen und neue Belastungspunkte entstanden, während der Tempel Tonne für Tonne verschwand. Noch von seinem Bett auf dem Fluss aus sah er die abgetrennten Köpfe, die gliedlosen Günstlinge des Hofes, die aufgestapelt und sauber nummeriert im Flutlicht auf ihren Abtransport warteten. Eintausendzweiundvierzig Sandsteinblöcke, deren kleinster zwanzig Tonnen wog.

Das wunderbar schöne Deckengewölbe aus Stein, an dem Vögel zwischen Sternen flogen, lag im Freien, unter den echten Sternen, und die echte Dunkelheit jenseits des Flutlichts war so dicht, dass diese Decke sich darin aufzulösen schien wie nasses Papier. Als Erstes hatten die Arbeiter sich an das Felsgestein gemacht, das dieses Deckengewölbe umgab, hatten einhunderttausend Kubikmeter sorgfältig abgezeichnet und beschriftet und dann mit den Kräften der Hydraulik fortbewegt. Und bald würden daraus künstliche Berge aufgetürmt werden.

Den Kopf gegen die Bordwand gelehnt, lauschte Avery dem Fluss, der an ihrem Bett vorüberfloss, und versuchte sich damit vom Lärm der Maschinen abzulenken. Im Geiste folgte er dem dunklen Wind auf seinem Weg und stellte sich die Stadt vor, die fast fünfhundert Kilometer weiter nördlich lag, lauschte dem gleichmäßigen Pusten der Glasbläser, den Rufen der Wasserverkäufer und Safthändler, den Schreien der Eisvögel im Brausen der alten Palmen, und glaubte zu hören, wie alle diese Klänge im Wüstenwind verschwebten, ohne je ganz zu verschwinden.

Der Nil war bereits bei Sadd El Aali eingeschnürt worden, und auch zuvor schon hatte man den mächtigen Strom umgeleitet, um den Ertrag der Delta-Baumwolle zu steigern und damit die Produktion der unvorstellbar weit entfernten Fabriken in Lancashire anzukurbeln. Avery wusste, dass ein Fluss, der kanalisiert worden ist, nicht mehr derselbe Fluss ist. Nicht mehr dasselbe Ufer, nicht einmal mehr dasselbe Wasser. Und obwohl der Einfallswinkel der aufgehenden Sonne im Großen Tempel weiterhin derselbe sein und auch jeden Morgen weiterhin dieselbe Sonne in das Heiligtum scheinen würde, wusste Avery doch: sobald der letzte Tempelstein ausgesägt und sechzig Meter nach oben gehievt, sobald jeder Block neu eingesetzt und jede Fuge mit Sand aufgefüllt wäre, so dass nicht ein Millimeter Abstand zwischen den Blöcken mehr verraten würde, wo sie zerschnitten worden waren, sobald jedes Königsgesicht wieder am richtigen Ort säße, würde die Vollkommenheit dieser Illusion — gerade die Vollkommenheit — den Verrat offenbaren.

Wenn jemand dazu gebracht werden konnte, zu glauben, dass er an der echten historischen Stätte stehe, die ja zu diesem Zeitpunkt schon von den Wassern des Staudamms verschlungen wäre, dann wäre tatsächlich der gesamte Tempel zu einer einzigen Täuschung geworden. Und wenn Avery schließlich — nach viereinhalb Jahren voller Überarbeitung, in denen er oft krank war wegen der extremen Temperaturschwankungen und wegen der ständigen Angst vor einer falschen statischen Berechnung —, wenn er also schließlich zusammen mit den Kultusministern, den fünfzig Botschaftern, seinen Ingenieurkollegen und den eintausendsiebenhundert Arbeitern dastehen und ihr gemeinsames Werk bestaunen würde, dann, so fürchtete er, könnte es sein, dass er zusammenbrach — nicht vor Triumph oder Erschöpfung, sondern vor Scham.“

©Berlin Verlag©

Literaturangaben: MICHAELS, ANNE: Wintergewölbe. Aus dem kanadischen Englisch von Gerhard Falkner und Nora Matocza. Berlin Verlag, Berlin 2009. 350 S., 22 €.

Weblink:

Berlin Verlag


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