SCHLÖGEL, KARL: „Moskau lesen“. Hanser Verlag, München 2011. 512 S., 25,90 €.
Von Roland H. Wiegenstein
Wenn jemand Philosophie, Soziologie und Osteuropäische Geschichte studiert hat und sich brennend für die unlösbare Verbindung von Raum und Geschichte interessiert, also das, was man einmal „Geopolitik“ nannte (und was in Gelehrtenkreisen nach dem Krieg keinen guten Ruf mehr hatte, weil die Nazis mit dem Begriff Schindluder getrieben hatten: „Volk ohne Raum“ und was dergleichen Parolen mehr waren), dann musste er beinah zwangläufig auf Russland kommen. Zar Peter der Große ließ zu Beginn des 18. Jahrhunderts an der Ostseemündung der Newa eine weiße, klassizistische Residenzstadt aus dem sumpfigen Boden stampfen – sein St. Petersburg –, um dahin 1712 die Hauptstadt seines Riesenreiches zu verlegen, weg von der alten Metropole Moskau, weg von der großen Kreml-Festung, den zahllosen Kirchen hin zu dem, was ihn modern dünkte. Und wo dann 1917 die Revolution ausbrach, die das Zarenreich wegfegte und dessen neue Regierung bald zurückzog ins Innere. Nach Moskau.
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Moskau, das wollte Karl Schlögel, damals nicht einmal vierzig Jahre alt, erforschen. „Lesen“ lernen, wie er es nennt: Moskau, das sich, als er es Anfang der achtziger Jahre des 20.Jahrhunderts zu beobachten begann, noch unter der schon brüchig werdenden Eisdecke des Spätsowjetismus zu rühren begann. Wie viele Millionen die Hauptstadt damals (ja, man muss „damals“ sagen, obwohl seitdem kaum dreißig Jahre vergangen sind) hatte, schreibt Schlögel nicht. Heute jedenfalls sind es neun Millionen. Er versuchte die Stadt anhand von Stadtplänen zu erkunden – Bezirk für Bezirk, Bauwerk für Bauwerk. „Dechiffrierarbeit“ nannte er das. Daraus ist dann 1984 das Buch „Moskau lesen“ entstanden: die Kartografie einer Großstadt und die Beschreibung ihrer Menschen. In diesem Jahr hat sein jetziger, der Hanser Verlag, es neu aufgelegt – bereichert um zweihundertzwanzig weitere Seiten, die er „Notizen und Beobachtungen“ nennt. Diese kurzen Kapitel sind zwischen 1988 und 2010 entstanden, nicht als eine neue kohärente Analyse, aber dennoch die notwendige Ergänzung zu dem, was der junge Forscher gefunden hatte, nicht mehr so emphatisch, so auf umstürzende Entdeckungen aus, aber doch voller Einsichten im buchstäblichen Sinn. Denn in der Zwischenzeit hatte Schlögel ja auch „Terror und Traum“ geschrieben, ein Buch, das von Stalins berserkerhafter, mörderischer Anstrengung handelt, den sozialistischen Traum mit Blut Wirklichkeit werden zu lassen und die Exekutions-Kommandos Tag um Tag, Nacht für Nacht ihre Ernte hielten. In „Moskau lesen“ kommen die summarischen Morde wie die Schauprozesse zwar auch vor, aber sie werden im Kapitel über den klassizistischen Saal der Adelsversammlung angesiedelt, wo eben jene Prozesse stattfanden. „Die Adelsversammlung, nach der Revolution den Gewerkschaften übergeben und damit Zentrum einer neuen ‚proletarischen Öffentlichkeit’ war der Ort, an dem Millionen Arbeiter und Bauern 1924 von Lenin Abschied nahmen. Der Säulensaal des Gewerkschaftshauses hat die Erben Lenins noch um den Sarg vereint gesehen. 1953, als der große Sieger im Kampf um die Nachfolge selbst aufgebahrt war, war von denen, die sich 1924 im Säulensaal versammelt hatten, kaum noch jemand am Leben.“
Aber was davor (und danach) in diesem Saal geschah – von Gymnasiasten-Abschlussbällen (von einem berichtet die Zwetajewa) bis zu einer Rede Ranbindranath Tagores 1930 –, darüber weiß Schlögel alles. „Schon längst ist eine neue Epoche der ‚überflüssigen Menschen’ angebrochen, deren Energien verschlissen, stillgelegt, unterdrückt werden durch den ungeheuren Raubbau an Talent, Können, Einsatzbereitschaft, Begeisterung. An Leuten wie Herzen und Sacharow, an denen der Despotismus seine Trägheit und Grausamkeit demonstriert, ist weniger wichtig, wie repräsentativ sie sind, sondern dass es sie wirklich gibt. Allein, dass solches Verhalten existiert, steht für den Wandel der Verhältnisse.“
Dieser Wandel, als ein Aufbruch ohnegleichen, hat Moskau umgekrempelt und diese Stadt zu einer modernen Metropole gemacht. Schlögel zeigt es zum Beispiel an den fünf Hochhäusern aus der Stalin-Zeit, diesen Klötzen im „Zuckerbäckerstil“. Sie umgeben das weitere Stadtzentrum und verändern die Silhouette gründlich. Nicht mehr nur die Kuppeln der Kirchen bestimmen das Stadtbild, sondern eben auch diese Stalin-Hochhäuser, die den steingewordenen Ausdruck der neuen Zeit symbolisieren. Er zeigt aber auch, was übrig blieb von den Bauten des 19. Jahrhunderts und des Jugendstils, beispielsweise die Villen der „Kapitalisten“ in der Zeit vor 1917, die in „Kommunalkas“ verwandelt wurden – jene berüchtigten Gemeinschaftswohnungen, die die Massen aufnahmen, die nach Moskau strömten oder zu Museen wurden. Diesen Kommunalkas und ihren didaktischen Aufgaben widmet der Autor ein eigenes Kapitel. Sie sollten die eben geschehende Geschichte in die jeweilige Jetztzeit hineinholen, sie sollen belehren und anfeuern. Er berichtet auch von den irrwitzigen Plänen eines riesigen Palastes der Sowjetunion, von dem es nur die Aushebung gab und zu Stalinzeiten in ein enormes Freibad umgewandelt wurde. Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurde mit Hilfe einer Betonkopie die Christ-Erlöser-Kathedrale, die man abgerissen hatte, wiedererrichtet. Nun nimmt sie wieder eine Seite des Roten Platzes ein. Schlögels Spurensuche führt den Bibliophilen auch in die Antiquariate. In Sowjetzeiten gut verwahrte Orte, wo die alten Bücher hinter Glas standen, man lange anstehen und das Gewünschte aus Karteien bestellen musste, und wo heutzutage alles steht – vom anarchistischen Text bis zur Pornographie. Man kann sich selbst bedienen und findet – wenn man nur sucht – etwa alte Adressbücher aus den 3Oer Jahren, in denen noch die Potentaten von damals mit Telefonnummer verzeichnet sind. Dann verschwinden sie mit diesen Büchern und heute beherrschen Reklamen die Seiten. Putins Nummer wird man darin vergeblich suchen. Wir lernen viel über die damaligen, oft bedeutenden Architekten kennen, wie Fjodor Schechtel (1859-1926) beispielsweise, den der Autor besonders schätzt. Aber auch von „denen aus dem Westen“, Leute wie Le Corbusier etwa, die der Geruch des Neuen nach Moskau getrieben hatte und Kosmopolitismus und „Formalismus“ noch nicht geächtet waren. Auch ihre Spuren finden sich, es gibt sie, die konstruktivistischen, von russischen Architekten errichteten Bauten: im Stadtraum verteilt, auch wenn Tatlins gedrehte Pyramide nur noch im Entwurf existiert. Was den Autor interessiert, sind die vielen verschiedenen Schichtungen, in denen die Metropole sich neu erfand. Und wie die Menschen damit umgingen – zum Beispiel mit dem Netz der Untergrundbahnen und ihren auf Schönheit getrimmten Bahnhöfen. Schönheit im Sozialismus: etwa die vielen Konzerte, die es damals gab. „Es spricht für die Unbeirrbarkeit und Festigkeit, nicht unbedingt Weltfremdheit, wenn auf dem Höhepunkt der Revolutionswirren, am 25. 1917 sich drei Professoren des Koservatoriums im Kleinen Saal zusammensetzten, um ein Konzert mit Werken Johann Sebastian Bachs zu geben.“
Schlögel hat beim „Lesen“ alle Spannungen und Widersprüche des Moskau entdeckt, die in der sowjetischen Zeit zu entdecken waren – und die neuen nachher. „Moskauer Zeit neuen Stils ist, wenn ein Faktum keine ‚Verleumdung’ mehr ist und ein Streik ein Streik genannt wird. Neue Moskauer Zeit ist, wenn in einer pompösen ‚Ausstellung der Errungenschaften des Volkswirtschaft’ die Computer aus Singapur, Taiwan und Korea zum Maßstab der Zeitrechnung von Fortschritt und Rückstand gemacht werden und nicht die Stückzahl produzierter Raupenschlepper. Neue Moskauer Zeit ist, wenn Bilder, die noch gar nicht gemalt sind, bereits von Galeristen aufgekauft werden.“ Die Rückkehr des Individualismus, die er in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts überall entdeckt, diese Wendung vom „homo sovieticus“ weg zu etwas, was noch keine endgültige Form gefunden hat, sich nur in den Formen des Moloch Großstadt Moskau mit seinen neuen Autobahnringen manifestiert – das alles fasziniert und erschreckt den Autor: „Die Einheitszeit zerfällt. Während im Alltag die Zeit stillsteht, sich verlangsamt, beschleunigt sich die Ereigniszeit, die sich in den Medien bricht, schwindelerregend. Die Interviews mit emigrierten und exilierten Dichtern in der mitternächtlichen Fernsehsehndung egalisieren ein mehr als zwei Jahrzehnte dauerndes Schweigen, aber die Fahrt im überfüllten Bus von der Arbeit nach Hause zehrt noch immer die letzten Reserven auf.“ Nichts in diesen Notizen von 1991 ist ergreifender als das Kapitel über die „Vollkommenheit des Gelingens“, und damit ist Jelzins Putsch gemeint: „Eine Revolution, die von Menschen gemacht wird, die auf den Barrikaden schön sind und sich nicht zur Verbitterung hinreißen lassen, ist schwerlich zu besiegen. Sie zeigen, dass sie die Furcht verloren haben.“
Das ist auch schon wieder zehn Jahre her. Und dem Blick von der Dachterrasse eines Hochhauses mit dem überwältigenden Panorama erfolgt die Beschreibung des „Memorial“, wo man die Gräuel sammelt und die des Schauprozesses gegen den Unternehmer Chodorkowski, „ein unerhört barbarisches Schauspiel“. „Der Mensch im Glaskäfig, ein Signum von Willkür und Schmach im frühen 21. Jahrhundert.“ In diesem kurzen Kapitel kommt Putin vor, der als Staats- wie Ministerpräsident die Zeit anhalten will. Nicht zurückdrehen, das geht nicht, aber verwandeln in eine neue – einer kapitalistischen? – Diktatur. Bei allen Fortschritten, die Moskau gemacht hat, ist die Gefahr einer neuen Eiszeit nicht auszuschließen. Karl Schlögel, der die Stadt und ihre Bewohner so gut kennt, ist nur mit Maßen skeptisch. „Es sind nicht mehr die ‚neuen Russen’, die sich wie selbstverständlich in der Berliner U-Bahn bewegen, sondern ganz normale und wohlhabende Schüler, Studenten, Ehefrauen, die das Geld, das ihre Männer in Moskau verdienen, im Bayerischen Viertel oder in Charlottenburg ausgeben. Man wird sehen, wie sich die Lage in Moskau entwickelt, ob man für immer bleibt oder nur ein pied-a-terre für alle Fälle vorhält.“
Soziologen, Topografen, Liebhaber Moskaus sind keine Propheten, auch Schlögel ist keiner. Er wagt keine andere Voraussage als die berühmte von Walter Benjamin über den „Engel der Geschichte“ – und eine Hoffnung: „Dann wird der granitene Kubus auf dem Roten Platz, diese vollkommene Kristallisation totaler Macht, diese vollkommene Konzentration von Raum auf einen Punkt zu etwas anderen werden, zum ästhetisch unüberbietbaren Memorial, zum Pantheon der millionenfachen sinnlosen Tode, zum Block, mit dem das russische 20. Jahrhundert versiegelt werden wird.“ Dazu muss die Mumie Lenins in russischer Erde begraben werden. Bald? Oder nie?
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