Von Irma Weinreich
Am Wachposten mit schussbereiter Kalaschnikow kommt kein Deutscher vorbei. Graue Betonmauern riegeln die Siedlung in einer Kleinstadt im Brandenburgischen hermetisch ab. Die in den 30er Jahren errichteten Einfamilienhäuser sind seit Kriegsende fest im Besitz der siegreichen Sowjets. Unerreichbar für die ehemaligen Bewohner. Russische Offiziersfamilien haben sich scheinbar für die Ewigkeit einquartiert. Großvater, der beim Eigenheimbau selbst mit Hand anlegte, kann den Verlust am wenigsten akzeptieren. Um einen Blick auf sein verlorenes Zuhause zu erhaschen, steigt er über Jahre mit einem Fernglas jeden Sonntag 260 Stufen hoch auf den Wasserturm der Stadt. Die in Eberswalde lebende Autorin Marion Boginski erzählt in ihrem Roman „Elsas Blaubeeren“ die Geschichte eines Hauses, das schicksalhaft mit der einer ostdeutschen Familie verwoben ist.
Der Sehnsuchtsort „Russenhaus“ — wie die Familie ihr verlorenes Besitztum nennt — sorgt über Jahrzehnte für Gesprächsstoff. Nach dem Mauerfall und dem Abzug der sowjetischen Truppen im wiedervereinigten Deutschland ist mit der Ungerechtigkeit endlich Schluss. Nach 52 Jahren erhält die Familie ihr Eigentum zurück. Boginski (Jahrgang 1959) könnte eine der beiden Enkelinnen gewesen sein, für die Träume unerwartet Realität werden.
Doch was die Enkelinnen vorfinden, gleicht eher einem Alptraum. Einzig der Apfelbaum, den Opa Richard und Oma Elsa beim Einzug 1938 pflanzten, hat sich prächtig entwickelt. Das Haus ist zur Ruine verkommen. Alles, was nicht niet— und nagelfest war, haben die Russen beim Abzug mitgehen lassen: Elektroleitungen, Zählerkasten und Waschbecken. Boginski belässt den Ort ihrer Geschichte im Ungewissen. Rings um Berlin, wo zu DDR-Zeiten überall sowjetische Truppen für den „Fall aller Fälle“ stationiert waren, fänden sich viele ähnliche Familiengeschichten.
Die Mutter, längst im Pflegeheim, verfügt, dass die ältere Schwester Clara und deren Mann Hannes das baufällige Haus nach der Sanierung übernehmen. Ihre fünf Jahre jüngere Schwester, der Boginski im Buch geschickt die Rolle der Ich-Erzählerin zugewiesen hat, will keinen Streit, aber auch das Familienerbe nicht völlig aus der Hand geben. Mit feiner Ironie zeichnet die Autorin die beiden Schwestern, die unterschiedlicher kaum sein können. Nach jeder schief gegangenen Beziehung kann sich die Jüngere bei der Älteren am Küchentisch im alten, neuen Haus ausheulen. Allerdings bloß für zweieinhalb Tage, damit sie ja nicht „heimisch“ wird. Als an einem Weihnachtsabend Claras Ehemann ohne jede Erklärung verschwindet, darf sie ausnahmsweise länger bleiben. Voller Energie hilft sie der verzweifelten Clara ins Leben zurück.
Für Boginski ist es der erste Roman. Für ihre bisherigen literarischen Arbeiten war sie 2008 mit dem Ehm-Welk-Literaturpreis ausgezeichnet worden.
Literaturangabe:
BOGINSKI, MARION: Elsas Blaubeeren. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 220 S., 18,95 €.
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