MÜNCHEN (BLK) – Im Januar 2009 ist in der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA) das SPIEGEL-Sachbuch „Der Kalte Krieg“, herausgegeben von Norbert F. Plötzl und Rainer Traub, erschienen.
Kaum war der Zweite Weltkrieg beendet, begann zwischen den ehemaligen Alliierten in Ost und West ein Kalter Krieg. Fast ein halbes Jahrhundert lang, von 1945 bis 1990, war die Welt gespalten in zwei unversöhnliche Weltanschauungen und Gesellschaftssysteme. Zwei annähernd gleich starke Machtblöcke, die sich auch mit Atomwaffen hochrüsteten, bestimmten die Geschicke des Globus. Ein Eiserner Vorhang, der die Blöcke trennte, spannte sich mitten durch Deutschland. Immer wieder kam es zu explosiven Krisensituationen, etwa bei der Berlin-Blockade 1948, beim Mauerbau 1961 oder bei den Volksaufständen in der DDR, Polen und Ungarn. Während der Kuba-Krise 1962 stand die Welt vor einem Dritten Weltkrieg. Nach diesem Schock bemühten sich beide Seiten die Feindseligkeiten in Grenzen zu halten. Autoren des SPIEGEL und namhafte Zeithistoriker zeichnen die wichtigsten Entwicklungen, Krisen und Konflikte nach, stellen herausragende Protagonisten vor und zeigen, wie die Menschen im Schatten des Kalten Kriegs lebten.
Norbert F. Pötzl, geboren 1948, ist seit 1972 Redakteur des SPIEGEL, seit 2004 stellvertretender Leiter des Ressorts Sonderthemen. 2002 erschien seine Biografie „Erich Honecker“ bei DVA. Rainer Traub, geboren 1949, ist seit 1987 Redakteur des SPIEGEL. Zu den Schwerpunkten des promovierten Politologen gehören Sozial-, Kultur- und Zeitgeschichte sowie Literatur. (jud)
Leseprobe:
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DIE SPALTUNG DER WELT
Am Abgrund
Nur drei Jahre nach dem gemeinsamen Sieg über die NS-Diktatur standen sich ab 1948 Amerikaner und Russen in Europa waffenstarrend gegenüber. In der Rückschau wird klar: Die Menschheit entkam mehrmals nur durch Glück einem atomaren Inferno.
Von Georg Bönisch und Klaus Wiegrefe
Sätze können die Welt verändern, und jener Anruf gehört in diese Kategorie, weil das, was danach folgte, die Welt für Jahrzehnte in zwei Sphären teilte. In West und Ost, hier die Vereinigten Staaten von Amerika, da die Sowjetunion. Hier Kapitalismus und Demokratie, da Kommunismus und Diktatur. Und mittendrin, an der Schnittstelle der nunmehr bipolaren Ordnung, lag Berlin. Die Hauptstadt ausgerechnet jenes Landes, das den drei Jahre zuvor beendeten Krieg mit über 60 Millionen Toten angezettelt hatte.
Am 23. Juni 1948, einem Mittwoch, ließ sich US-General Lucius D. Clay mit seinem Landsmann Jack O. Bennett verbinden. Clay war amerikanischer Oberkommandierender in Deutschland, der 33-jährige Bennett, eine Mischung aus Curd Jürgens und Ernest Hemingway, saß als Europa-Direktor der Fluggesellschaft American Overseas Airlines in Frankfurt am Main.
„Captain“, schnarrte Clay, „es könnte sein, dass wir gezwungen werden, Berlin aus der Luft zu versorgen. Haben Sie eine DC-4, mit der Sie heute Abend Kohlen nach Berlin fliegen können?“
„Was? Kohlen?“, fragte Bennett entsetzt. „Unmöglich, ich habe nur Passagiermaschinen. Die Kohlen würden meine Sitze ruinieren, meine Airline macht mir die Hölle heiß.“
Clay: „Gut, wie wär’s mit Kartoffeln?“
Ja, antwortete Bennett, das gehe, „aber in Säcken“.
Darauf Clay: „Captain, Sie können Geschichte schreiben.“
Exakt um 22.09 Uhr landete Bennett auf dem Flughafen Tempelhof, der im Süden einer Stadt liegt, die im politischen Neugefüge eigentlich eine Irrealität darstellte. Berlin war in vier alliierte Sektoren aufgeteilt, befand sich aber mitten im sowjetisch beherrschten Teil des alten Deutschlands. Folgerichtig hatten die Russen auch die Hoheit über die Verkehrsadern aus Richtung Westen. Ein ideales Faustpfand. Und die Sowjets wollten es nutzen, um Amerikaner, Briten und Franzosen aus Berlin zu vertreiben und die Gründung eines Weststaates zu verhindern, der wenig später Bundesrepublik Deutschland heißen sollte.
Knapp acht Stunden nach Bennetts Landung, Punkt sechs Uhr am 24. Juni, gab die sowjetische Militärverwaltung Order, auf der Eisenbahnstrecke Helmstedt-Berlin den Passagier- und Güterverkehr einzustellen, wegen einer „technischen Störung“. Stromlieferungen aus dem Umland hatten die Sowjets schon gekappt. Angeblich wegen „Kohlenmangels“. Schiffe wurden an die Kette gelegt. West-Berlin mit seinen gut zwei Millionen Menschen, eine Insel im Ozean der Unwägbarkeiten, war nun blockiert. Es gab schon bald kaum noch Brot, kaum Fleisch, kaum Milch. Und nur auf einem Weg konnte wirklich geholfen werden – aus der Luft. So, wie es Bennett gezeigt hatte, in diesen Tagen vor 60 Jahren.
Kurz darauf brummten die ersten Maschinen in den Westteil der Stadt, von den dort lebenden Berlinern liebevoll „Rosinenbomber“ getauft. Rund 280.000 Flüge wurden es insgesamt, ehe Kreml-Diktator Josef Stalin 1949 entnervt die Blockade aufhob. Oft waren 40 Flugzeuge gleichzeitig in der Luft, gestaffelt auf fünf Ebenen übereinander, und dann flogen sie im Drei-Minuten-Takt. Eine Meisterleistung der Piloten und ihrer Logistiker. Und eine beispiellose Hilfsaktion für den Feind von gestern, die durchaus auch ein Propagandaziel hatte: die Menschen einzuschwören auf den Westen. Die Luftbrücke bedeutete nämlich nicht nur das bloße Heranschaffen von Kartoffeln und Kohlen.
In ihr manifestierte sich zugleich ein Konflikt, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben hatte: Cold War, Kalter Krieg. Ein Begriff , den Journalisten schon vor der Luftbrücke geprägt hatten und der das jahrzehntelange Ringen zweier ideologisch entgegengesetzter Weltentwürfe beschreibt.
„Der einzige Weg zur restlosen Befreiung der Menschen“, behauptete 1960 Nikita Chruschtschow, Nachfolger Stalins im Kreml, sei der „Weg des Kommunismus“. Der damalige US-Präsident John F. Kennedy hielt dagegen: „Die Zukunft gehört denjenigen, die sich für die Freiheit des Einzelnen einsetzen.“ Diese Kontrastellung definierte den Kalten Krieg.
In anderen Zeiten wäre es zu einem Waffengang gekommen, mit Feuer aus allen Rohren. Aber der Kalte Krieg fand im Atomzeitalter statt, und beide Seiten verfügten schon bald über ausreichend Nuklearsprengköpfe, um die Menschheit ein für alle Mal auszuradieren. Ein falscher Knopfdruck, eine falsche Entscheidung, und weite Teile der Erde wären im nuklearen Feuer ball verglüht, in dessen Zentrum eine unvorstellbare Temperatur herrschte – viermal so hoch, wie sie im Innern der Sonne angenommen wird: hundert Millionen Grad. Schon die nuklearen Flugkörper eines einzigen U-Bootes hätten ausgereicht, Deutschland in eine Todeswüste zu verwandeln.
Vergessen ist das nicht, und doch erscheint die wie gefroren wirkende Welt des Kalten Krieges manchem Politiker in Zeiten globalen Terrors und asymmetrischer Kriegführung verlockend übersichtlich. Feind, Freund, Neutraler – eine bizarr-saubere Ordnung im Theorem der Abschreckung, die geprägt schien von berechenbaren Gegnern und immer gleichen Verhaltensregeln.
Auch die Kreml-Führer hielten sich ans internationale Pflichtenheft – anders als die Qaida-Terroristen, die bereit sind, das „eigene Leben der eigenen Sache wegen zu opfern“, wie es Kanzlerin Angela Merkel formuliert. Dies sei „gegenüber den Zeiten des Kalten Krieges eine völlig veränderte Lage“, weil es keine Abschreckung im alten Sinne mehr gebe. Soll heißen: Heute zu leben ist gefährlicher als gestern? Oder zumindest gleichermaßen gefährlich, wie der US-amerikanische Präsident George W. Bush behauptete?
Zu einem solchen Urteil kann nur kommen, wer ignoriert, was seit Ende des Kalten Krieges aus den Erzählungen von Zeitzeugen und den Geheimarchiven der Kriegsparteien an die Öffentlichkeit gelangt ist. Denn danach sind Zweifel ausgeschlossen: Die Menschheit stand dichter am Abgrund, als die meisten damals auch nur ahnten. Immer wieder spielten Hardliner auf beiden Seiten – Amerikaner, Asiaten, Europäer – mit dem Risiko eines totalen Nuklearkriegs:
– weil sie sich einen Sieg erhofft en wie jene amerikanischen Militärs, die den Einsatz der Bombe im Korea-Krieg (1950 bis 1953) verlangten. Oder 1968 in Vietnam – ein Faktum, das erst kürzlich bekannt wurde;
– weil sie das Risiko falsch einschätzten, wie Kreml-Chef Chruschtschow, der 1962 Atomraketen auf Kuba stationierte und glaubte, die Amerikaner würden dies hinnehmen;
– weil sie sich falsche und banal-gefährliche Vorstellungen vom Atomkrieg machten. So suchte der chinesische Parteichef Mao Zedong seinem sowjetischen Verbündeten einzureden, es würden dann zwar große Teile der Erde verwüstet, aber dafür „der Imperialismus ausgelöscht und die ganze Welt sozialistisch“;
– weil sie die Nerven verloren, wie 1983 Teile der sowjetischen Führung, die fürchteten, der Westen bereite einen nuklearen Enthauptungsschlag vor. KGB-Agenten verfolgten bereits in London die Preise für Blutkonserven, um herauszufinden, ob zusätzlich Reserven angelegt wurden – angeblich Anzeichen für einen Kriegsplan der Nato.
Gleich mehrmals – so steht inzwischen fest – versetzten die Supermächte ihre Atomstreitkräfte weltweit in Alarmbereitschaft, weshalb der Bonner Historiker Harald Biermann ganz nüchtern bilanziert: „Für einen nostalgischen Blick auf den Kalten Krieg gibt es keinen Grund.“ Gerade in Deutschland nicht. Denn aus deklassifizierten US-Akten geht hervor, dass zeitweise die Entscheidung, Atombomben in Mitteleuropa zu zünden, bei untergeordneten amerikanischen Truppenkommandeuren lag. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte die sowjetische Seite vabanque gespielt. Oder wenn jemand schlicht durchgedreht wäre. Am Ende verhinderten Glück und Zufall öfter als staatsmännische Voraussicht das Schlimmste.
Der Krieg nach dem Krieg – gewollt oder gar geplant hat ihn keine der Parteien. Nach dem alliierten Sieg über Hitler demobilisierte Stalin knapp acht Millionen Soldaten seiner Roten Armee. Im kleinen Kreis erklärte der Generalissimus, die nächsten 10 bis 15 Jahre müsse man sich auf die Verteidigung des Vaterlandes beschränken. Und auch die GIs strömten in Massen aus Europa und Asien nach Hause, wo sie freudig begrüßt wurden. An Stalins Grundhaltung änderte der amerikanische Rückzug allerdings wenig. Der misstrauische Georgier, Sohn eines trunksüchtigen, gewalttätigen Schusters, glaubte sich zeit seines Lebens von Feinden umgeben. Der Westen, so behauptete er, werde „niemals, niemals, niemals akzeptieren, dass ein so großes Gebiet (wie die Sowjetunion – Red.) rot ist!“ Und so konnte der alternde Diktator gar nicht genug Sicherheitsgarantien bekommen.
Für die von der Wehrmacht verwüstete Sowjetunion reklamierte Stalin ganz Osteuropa als Sicherheitsglacis; in Warschau, Budapest oder Sofi a setzte er Marionettenregime ein. Auch in Iran, der Türkei und im besetzten Deutschland suchte er seinen Einfluss zu vergrößern: „Ganz Deutschland muss unser werden, also sowjetisch, kommunistisch.“ Dahinter stand kein Masterplan des Kreml, wie lange Zeit im Westen vermutet wurde, sondern das Prinzip der sowjetischen Außenpolitik. Stalins Außenminister Wjatscheslaw Molotow fasste es in den Worten zusammen: „Wenn es geht, sind wir offensiv, wenn es nicht geht, warten wir ab.“
Und mit dieser Konstellation nahm das Verhängnis seinen Lauf. Denn auch in Washington bestimmte Angst die Politik, wie der US-Historiker Melvyn Leffler schreibt. Nie wieder sollte von Europa eine Gefahr für die amerikanische Supermacht ausgehen wie zu Zeiten Adolf Hitlers. Und nie wieder wollte man den Fehler machen, einen aggressiven Diktator zu lange gewähren zu lassen.
Es dauerte dann noch eine Weile, ehe US-Präsident Harry S. Truman entschlossen gegenhielt. Am 12. März 1947 gab der Demokrat vor einem begeisterten Kongress ein großes Versprechen ab – es ist als Truman-Doktrin in die Annalen eingegangen. Amerika werde allen Völkern helfen, „deren Freiheit durch militante Minderheiten oder Druck von außen“ bedroht sei. Das Parlament bewilligte Hilfsgelder in Millionenhöhe für Griechenland und die Türkei, wo Untergrundbewegungen operierten, die einen kommunistischen Umsturz planten. Und solcherlei Unterstützung war nur der Anfang.
Am 5. Juni verkündete Außenminister George Marshall den nach ihm benannten Plan – ein Hilfsprogramm zum Wiederaufbau Europas auf privatwirtschaftlicher Grundlage. Zugleich trieb Truman die Gründung der Bundesrepublik Deutschland zügig voran, deren Existenz zu den wenigen Aktivposten in der Bilanz des Kalten Krieges zählt. Bezeichnenderweise steigerte die deutschlandpolitische Weichenstellung die Ängste in Washington noch; denn die Sorge lag durchaus nahe, ein derart aufgepäppeltes (West-)Deutschland könne Stalin in die Hände fallen. „Um zu verhindern, dass Deutschland kommunistisch wird“, müsse ein „großer Kampf“ geführt werden, erklärte Marshall.
Den „großen Kampf“ wollten Truman, Marshall und ihre Parteigänger allerdings am liebsten ohne Waffen austragen. Die US-Politik sah vor, die sowjetische Expansion weniger militärisch als vielmehr politisch und wirtschaftlich einzudämmen. Offenbar dachten die Amerikaner an eine Rivalität, vergleichbar der Konkurrenz zwischen den USA und dem kommunistischen China heute.
Eine solche Entwicklung hätte der Menschheit viel Leid erspart, sie wäre allerdings nur möglich gewesen, wenn nicht Stalin im Kreml gesessen hätte. Dieser „wollte keinen Kalten Krieg“, wie die russischen Historiker Wladislaw Subok und Konstantin Pleschakow schreiben – aber: „Er wusste nicht, wie er ihn vermeiden konnte.“ Der paranoide Diktator fühlte sich durch die amerikanische Offensive in seinen schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Im Politbüro erklärte er am 14. März 1948, es habe sich gezeigt, dass die beiden Lager nicht zusammenkommen könnten – sie seien eben „wie Feuer und Wasser“.
Wie die Amerikaner in ihrem Bereich, so trieb Stalin in seiner Einflusssphäre die Konsolidierung voran, allerdings mit den ihm eigenen Methoden. In Prag übernahmen die Kommunisten mit einem Staatsstreich die Macht; wenige Monate später begann die Berlin-Blockade. „Jede Seite sah die andere als gefährliche Bedrohung, und indem man darauf aggressiv reagierte, wurde man auch zu einer solchen“, schreibt der US-Historiker Gerard DeGroot.
Das Krisenjahr 1948 markiert infolgedessen einen Wendepunkt der Geschichte. Bis dahin war die amerikanische Öffentlichkeit nicht von der Notwendigkeit eines Kalten Krieges gegen den einstigen Verbündeten überzeugt. Bitten der Briten nach einer „Unterstützung Westeuropas durch die USA“ hatte Washington bezeichnenderweise abgelehnt. Sogar der Marshall-Plan wurde von den oppositionellen Republikanern im Kongress in Frage gestellt. Mit der Berlin-Blockade 1948/49 änderte sich das Bild grundlegend. Schon bald erfasste Angst die Menschen, aus der später jene antikommunistische Hysterie wurde, die sich mit dem Namen des Senators Joseph McCarthy verbindet.
Die US-Militärs integrierten jetzt die Atombombe in ihre Kriegsplanspiele. Endlos könne man die Luftbrücke nicht aufrechterhalten, mahnte die Generalität. Clays Stabschef schlug allen Ernstes vor, über dem Rhein eine Atombombe zu zünden – um die Sowjets einzuschüchtern. Am 13. September 1948 notierte Truman: „Ich habe das schreckliche Gefühl, dass wir sehr dicht vor einem Krieg stehen.“ Der Senat bewilligte nicht nur die Marshall-Hilfsgelder, sondern signalisierte zudem die Bereitschaft zu einem dauerhaft en militärischen Engagement in Europa – ein radikaler Bruch mit der isolationistischen Tradition in der amerikanischen Außenpolitik, der im Jahr darauf die Gründung der Nato nach sich zog.
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Literaturangaben:
PÖTZL, NORBERT F. (Hrsg.) / TRAUB, RAINER (Hrsg.): Der Kalte Krieg. Wie die Welt den Wahnsinn des Wettrüstens überlebte. Ein SPIEGEL-Buch. DVA, München 2009. 320 S., 19,95 €.
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