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Der Waldorfpädagoge

Rudolf Steiners Biographie

© Die Berliner Literaturkritik, 07.02.11

MÜNCHEN (BLK)– Anlässlich des 150. Geburtstages von Rudolf Steiner ist im Januar 2011 bei DVA Sachbuch die Biographie des Anthroposophen und Waldorfpädagogen, verfasst von Miriam Gebhardt, erschienen.

Klappentext: Miriam Gebhardt widmet sich in ihrer Biographie dem Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik, dem Esoteriker und Philosophen Rudolf Steiner. Gebhardt bettet Steiner in den Kontext seiner Zeit ein und verortet ihn in der Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Ausgestattet mit einem feinen Gespür für die Sorgen und Wünsche seiner Zeitgenossen, griff Steiner deren Sehnsüchte geschickt auf und goss daraus ein Sinnfindungsprogramm für das Bürgertum. Wie viele andere Propheten und Reformer wandte er sich den Themen zu, die den Menschen auf den Nägeln brannten: Erziehung, Gesundheit, Religion und die Rasanz des modernen Lebens. Aber wie kaum einem anderen gelang es ihm, bis in die Gegenwart zu wirken. Nicht nur Waldorfschulen erfreuen sich großer Beliebtheit, auch Lebens- und Pflegemittel aus anthroposophischer Produktion finden sich heute in fast jedem Supermarkt.

Miriam Gebhardt wurde 1962 geboren und ist Historikerin und Journalistin. Neben ihrer journalistischen Arbeit unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, den STERN, die ZEIT, und für Frauenzeitschriften promovierte sie in Münster und habilitierte sich an der Universität Konstanz, wo sie als Privat-Dozentin lehrt. Sie wohnt in München.

Leseprobe:

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©DVA©

 

EINLEITUNG

Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie, konnte mit den Toten sprechen. Sie gaben ihm Einblick in ihr Wissen, und er kümmerte sich dafür um ihre Reinkarnationen. Wir Normalsterblichen hingegen, die nicht so hellsichtig sind, haben es schwerer. Eine Biographie über Rudolf Steiner zu schreiben, ohne auf „karmisches Wissen“ zurückgreifen zu können, ist ein ehrgeiziges Projekt. Denn Steiner war ein flüchtiger Prophet. Ungreifbar in jeder Hinsicht. Seine Familie kam aus dem „Bandlkramerland“ in Niederösterreich, einer Gegend, in der die Menschen in Heimarbeit gefertigte Bänder in Bündeln auf dem Rücken zu Markte trugen. Steiner wurde auf seine Art auch ein Bandlkramer. Er war ein fahrender Händler selbst gefertigter Wahrheiten. Aufgewachsen am Schienenstrang der österreichischen Südbahn, der Vater ein k. u. k. Bahnbeamter, verbrachte Steiner ein ganzes Leben auf der Durchreise. Sechs Vorträge in drei Städten an drei Tagen, das war ein typisches Pensum in seinem Prophetenleben. Nie richtete er sich irgendwo ein oder gründete gar einen bürgerlichen Hausstand.

  So entwurzelt sein physisches Leben war, so wechselhaft war sein Geist. Als Kind verzauberte ihn die Mathematik. Als Student sollte er Realschullehrer werden, aber lieber trieb er Philosophie. In seinen jungen Jahren wurde er Hauslehrer, in seinen mittleren Goetheforscher. Er strebte eine akademische Karriere an und endete als Lehrer an Liebknechts Arbeiterbildungsschule. Erst mit Ende dreißig fand er zu seiner eigentlichen Lebensthematik, der Anthroposophie. In der vergleichsweise kurzen Zeit, die ihm dann noch blieb, formulierte er eine Kosmologie, eine Christologie, eine Meditationsschule, die anthroposophische Medizin, die Eurythmie, die biodynamische Landwirtschaft und – nicht zuletzt – die Waldorfpädagogik.

All das, seine wechselvolle und dynamische Laufbahn, die vielen Fragen, die er aufgriff und in seinen Händen zur alles erklärenden Weltanschauung modellierte, macht Steiner zu einem schwer fassbaren Protagonisten. Er hatte zu viele Talente und Facetten. Das erkannten auch schon seine Zeitgenossen, von denen sich etliche ereiferten über so viel Universaldilettantismus und die „geradezu pathologische Gründerkühnheit„ eines „modernen Warenhausbesitzers“.

Doch trotz dieser Lebensfülle ist die Faktenlage zu seinem wechselhaften Leben dünn. In seinen arg stilisierten Selbstauskünften, verschlossen und verschleiernd, von den Siegelträgern seiner Lehre beschützt, liegt dichter Nebel über Rudolf Steiners Leben.1 Das beginnt bei ganz banalen Fragen zu seiner Vita. Was löste den Umschwung in seiner Karriere aus vom akademischen Prekariat hin zur freischaffenden Esoterik? War es wissenschaftlicher Misserfolg, der ihn in die Arme des Okkultismus trieb? Warum blieben seine beiden Ehen kinderlos? Wollte er keine Kinder, oder war ihm Sex zu „animalisch“?

Anthroposophen finden diese Fragen nicht wichtig, ja eigentlich nicht einmal zulässig. „Wer schreibt schon eine Biographie über Steiner? Das ist so, als wollte man über Buddhas Leben schreiben“, formulierte mir gegenüber eine

Anthroposophin ihre grundsätzlichen Bedenken gegen jede biographische Annäherung. Steiner war der große „Meister“ und keine historisch erforschbare Person. Er war ein Menschheitsführer, Religionsstifter und Seher, den zu recherchieren und zu beschreiben fast schon ein Sakrileg sei.

Was man über sein Leben weiß, ist außerdem noch unzuverlässig. Heilige leben in ihren Legenden weiter. Eine immer wiederholte ist zum Beispiel, Rudolf Steiner sei aus einfachsten Verhältnissen emporgestiegen. Das stimmt nicht, aber vor einem dunklen Hintergrund funkelt eine Erfolgsgeschichte eben umso heller. Eine weitere Hürde bei der Beschäftigung mit einem „Erleuchteten“ ist seine historische Einordnung. Welchen Platz hat Rudolf Steiners Denken im großen Bild der Reformbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts? Auch diese Frage ist in seiner Gemeinde unstatthaft. Wer sich mit dem Werkzeug der Geschichtswissenschaft auf die Spuren des Gurus macht, hat schon zweimal verloren. Erstens, weil Steiner das historische Denken verhasst war; zweitens, weil er von der akademischen Wissenschaft nicht viel hielt. Er hatte seine eigene „Geisteswissenschaft“, die eigentlich eine Geister-„Wissenschaft“ war. Seine Themen, von der Kunst über die

Gesundheit, Landwirtschaft, Religion bis hin zur Erziehung lagen für ihn nicht, wie für all die anderen Reformerkollegen seiner Zeit, auf der Straße – er fand sie anderswo, beim Hellsehen nämlich, in der ominösen „Akasha-Chronik“, die sich angeblich nur ganz wenigen Eingeweihten offenbarte.

Aus der Sicht der Historiker ist das kein gangbarer Weg. Wer nicht nur glauben will wie die Anhänger Steiners, sondern nachvollziehen, muss sich an weniger obskure Erkenntnisquellen halten. Die wichtigste ist zweifellos der historische Kontext. Nur über Steiners Zeitgenossenschaft wird man ihm näherkommen. Seine Anliegen und Lösungsvorschläge werden nur im Kontext der Wilhelminischen Ära und der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erkennbar, also vor dem Panorama einer Zeit, als im gebildeten Bürgertum die Reformanstrengungen grassierten. Anlass waren reale und eingebildete Bedrohungen in der Moderne. Die Zergliederung des Menschen, des Wissens, der Arbeit und der Zeit forderte das bürgerliche Selbstverständnis heraus, weshalb man sich zu lebensreformerischen und moralischen Vereinigungen zusammenfand. Die Patentrezepte zur Heilung des Selbst und der Gesellschaft hießen: Vegetarismus und Antialkoholismus, Nudismus, Abwehr von Schmutz und Schund, körperliche Ertüchtigung, Kleiderreform, Rassenhygiene, gesundes Wohnen und Bauen, Reformkost, ganzheitliche Medizin oder Rationalisierung von Sexualität und Fortpflanzung. Manche der Beteiligten engagierten sich unter christlichem

Vorzeichen und suchten eine modernere Form des Glaubens. Andere beteten das Volk oder die Rasse an. Fast alle schlossen sich vereinsmäßig zusammen und machten damit das Wilhelminische Zeitalter zu einem bunten weltanschaulichen Biotop. In derselben Zeit also, als Steiner an den Brutstätten der Reformbewegungen lebte und ebenfalls Antworten – sowie einen Broterwerb – suchte, nachdem seine akademische Karriere beendet war. Diese Vielfalt an Reformbestrebungen bildet den Hintergrund, vor dem sich die Konturen unseres Propheten abzeichnen.

 

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Literaturangabe:

GEBHARDT, MIRIAM: Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet. DVA München 2011, 368 S., 22,99 €, ISBN 978-3-421- 04473-0.


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