Ob man in 80 Sätzen die Geschichte des 20. Jahrhunderts niederschreiben kann, mag fragwürdig erscheinen. Dass es nicht ganz unmöglich ist, beweist das neue Buch von Helge Hesse „Ich habe einen Traum. In 80 Sätzen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts“. Es handelt sich um Sprüche, Zitate, geflügelte Worte, die im vorangegangenen Jahrhundert die Welt bewegten und jetzt – gesammelt und kommentiert vom Autor – ein unterhaltsames, intelligentes Exemplar der modernen Oral History zum Ausdruck bringen.
Der Band fängt gar nicht harmlos an: „Pardon wird nicht gegeben“ – der markante Aufschrei Wilhelms II., der 1900 die deutschen Soldaten zum Aufbruch gegen die Chinesen zu animieren versucht, zeitigt blutige und erbärmliche Resultate. Die sogenannte Hunnenrede des Kaisers gilt heutzutage als Aufforderung zu einem später tatsächlich durchgeführten rücksichtlosen Rachefeldzug, der die Deutschen als brutale, barbarische Kämpfer erkennen ließ. Es hätte sein können, dass dieser gewaltige Schaden am eigenen Image eine Episode bleibt, die dann nur zufällig in das erste Jahr des 20. Jahrhunderts fällt. Es kam jedoch anders. Helge Hesse führt uns mit der chronologischen Präzision der ausgewählten Zitate vor Augen, dass das 20. Jahrhundert geradezu verdammt war, seine nationale oder individuelle, psychische oder kosmisch-universelle Sicht ständig zu hinterfragen.
Gleich in den ersten Jahrzehnten nach 1900 bringen Einstein und Freud das aufklärerische Prinzip des 19. Jahrhunderts ins Wanken. Die heute zum geflügelten Wort avancierte Formel Einsteins E = mc² relativiert die Universalgrößen von Raum und Zeit, indem sie den Teilchen eine bisher verkannte Bewegungsenergie im Zeit-Raum-Kontinuum zuspricht und unter Beweis stellt. Indem wiederum Freud behauptet, dass das Ich nicht der Herr im eigenen Haus sei, weist er auf die im Dunkeln der Psyche liegende Kraft des Unbewussten und auf die nur eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten des Bewusstseins hin.
Da könnte natürlich jemand einwenden, dass das selbstverständlich sei, man brauche heutzutage nicht mehr an die Grundlagen des modernen abendländischen Denkens zu erinnern. Dies erscheint jedoch nicht mehr so selbstverständlich, nachdem man einen tieferen Blick in das Buch Hesses riskiert hat. Auch wenn der gegenwärtige Mensch gerade das Unbewusste zu akzeptieren weiß, fällt es immer noch schwer, den lieben Doktor Freud anders als mit einer ein wenig altmodischen, allzu sehr mit der Sexualtheorie beschäftigten Gestalt zu verbinden. Und was hätten damals die großbürgerlichen Österreicher, die hochneurotischen Damen in Taftkleidern sagen sollen, wenn sie auf die Couch gebeten wurden?
Es ist einer der Verdienste des vorliegenden Buches, dass es uns wieder in die Zeit versetzt, in der die großen Entdeckungen gerade gemacht wurden. Umso spannender ist dann der Vergleich zwischen damals und jetzt. Die Storys, die den jeweiligen Satz begleiten, sind im Präsens gehalten. Sie geben kurz und einfühlsam die Atmosphäre wieder, in der die Genies, große Politiker, Philosophen oder Schriftsteller, ihre manchmal bahnbrechenden, manchmal allzu weit ausgeholten Sätze formuliert haben. Das Buch ist also nicht nur eine Ansammlung von Zitaten, sondern schildert gleichsam eine Passage von Geschichtsbildern, die das Ausgesprochene umgeben.
Es ähnelt einer Dia-Show, die am Abend die vergangene Epoche vorführt. Wozu sollte das gut sein? Es gäbe mindestens zwei Gründe. Zum einen kann das für diejenigen, die sich nur ein bisschen für die Weltgeschichte interessieren, eine spannende Wiederholung des obligatorischen Schulwissens sein. Für die anderen, geübten Leser mochte das Buch einen Raum für die nahezu buddhistische Reflexion über Ebbe und Flut der Geschichte, über Ursache und Wirkung in den Entwicklungen des 20. Jahrhunderts bieten, um dann vielleicht „das miese Karma“ unserer Zeit doch zu widerlegen.
Die Titelgeschichte des Buches, die auf Worte Martin Luther Kings („I have a dream“) zurückgreift, verkörpert das Anliegen des Bandes, den Bogen zwischen Vergangenheit und Gegenwart kongenial zu schlagen. 1963 sprach der schwarze Pfarrer vor dem Washington Memorial den Wunsch aus, seine Kinder mögen in Zukunft nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden. Das geschah nur acht Jahre, nachdem die schwarze US-Amerikanerin Rosa Parks sich geweigert hatte, im Bus ihren Sitzplatz den Weißen zu überlassen. Das Black Movement, das seitdem immer weitere Kreise zog, erschütterte das Selbstverständnis der Amerikaner bezüglich der Rassentrennung und hat einen langen Kampf um die Bürgerrechte der Schwarzen initiiert.
Auch wenn Martin Luther King von einem Attentäter 1968 erschossen wurde, hat sein bewegender Satz Jahrzehnte überlebt. Die Geschichte der USA hat 2009 wieder für Pathos und Tränen gesorgt, als Barack Obama am 20. Januar zum ersten schwarzen US-Präsidenten ernannt wurde. In diesem Erfolg wird ebenfalls eine wörtlich lineare Verbindung zwischen Martin Luther King und Obama sichtbar: Eine auf die Träume zurückgreifende Rhetorik schlug beim Wahlsieg in eine tiefe Überzeugung um, die im teilweise bejubelten, teilweise verspotteten Satz „Yes, we can“ zum Ausdruck kam.
Auf den ersten Blick hat das Buch mit der Wirklichkeit der mündlichen Überlieferung wenig zu tun. Die echte Oral History bezieht sich eher auf traditionsreiche und identitätssichernde Erzählungen als auf stichwortartige Ausrufe oder Sätze einzelner Personen, so bedeutend sie auch sein können. Sollte man aber deshalb auf den Begriff in Bezug auf Hesses Buch völlig verzichten? Nicht unbedingt. Walter Benjamin beklagte noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Tatsache, die mündliche Erzählung sei im Begriff zu verschwinden. An die Stelle der vom allwissenden Erzähler überlieferten Geschichten traten Romane, die seiner Meinung nach aus der Einsamkeit des Menschen und dem Fehlen der Weisheit herrührten.
„Ich habe einen Traum. In 80 Sätzen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts“ bezeugt die Suche nach Weisheit, die in der modernen und später postmodernen Zeit der abendländischen Kultur gar nicht mehr romanhaft, sondern knapp, bündig und vielleicht auch in ihrem Gestus der ikonografischen Darstellung ein wenig plakativ erscheint. Unabhängig davon, ob es sich um Zitate aus John Lennons Liedern, aus Reden Gandhis oder aus den Büchern Francis Fukuyamas handelt, es verbindet sie eine allzu menschliche Sehnsucht nach Erkenntnis – gekleidet ist sie oft, wie die markanten Sätze zeigen, in Coolness, Ironie oder auch Größenwahn. Die moderne Oral History, die hier zum Ausdruck kommt, basiert also nicht mehr auf einer langatmigen Erzählung, die wiederum auf langjährige Überlieferung zurückgreift.
Das vorliegende Buch liefert gerade selbst ein Stück der modernen Erzähltradition, wo die Worte, erst mal gesprochen, manchmal nach Jahren ihre positive oder negative Wirkkraft entfalten. In dieser Hinsicht erinnern die 80 Sätze an mittelalterliche Zauberformel, wo das Gesagte die Funktion hatte, die gewünschte Realität herbeizuschwören oder dramatische Ereignisse abzuwenden. Dies hat zur Folge, dass die jetzt im Buch von Hesse aufgeführten Zitate – mit der Zukunft ihrer eigenen Geschichte konfrontiert – sich selbst nach Jahren in Frage stellen müssen.
Solche Parolen wie „Arbeit macht frei“ oder „Der Tod eines einzelnen Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen ist nur eine Statistik“ (Stalin) stellen die vermeintliche Weisheit des 20. Jahrhunderts bloß und verlangen trotzdem danach, sie weise und behutsam in die Zukunft zu integrieren.
HESSE, HELGE: Ich habe einen Traum. In 80 Sätzen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 357 S., 19,95 €.