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Derbes Sittengemälde aus China

Liu Hengs Roman „Bekenntnisse eines Hundertjährigen“

© Die Berliner Literaturkritik, 18.11.09

Liu Hengs „Bekenntnisse eines Hundertjährigen“ beginnt wie ein typisches Sittengemälde. China im Jahre 1908, in einer kleinen Hafenstadt in der Provinz sitzt der 16-jährige Hausdiener „Ohrwaschel“ in einem Teehaus, lauscht den Prahlereien der Besucher und verfällt in lüsterne Tagträume. Doch die Idylle wird nicht lange anhalten. Beiläufig erwähnt der Teehausbesitzer einen Aufruhr, der den Postverkehr lahm gelegt hat. Und als am Pier das Schiff des „Zweiten Herren“ anlegt, des jüngsten Sohns des Cao-Clans, bei dem „Ohrwaschel“ dient, eilen Halbverhungerte in großen Scharen herbei, um den reichen Mann anzubetteln.

Das alte China steht 1908 vor einem brutalen Umbruch: Die von den Mandschu etablierte Qing-Dynastie, die letzte Kaiserdynastie Chinas, wird von republikanischen Rebellen mit Attentaten und Aufständen bekämpft, die gesamte traditionelle Feudalgesellschaft ist in Auflösung begriffen. Vor dieser Kulisse des zerfallenden Kaiserreichs spielt sich eine Familientragödie ab, die der Diener „Ohrwaschel“ als hundertjähriger Greis im Rückblick erzählt.

Das Unheil nimmt seinen Lauf, als der „Zweite Herr“ von seinem Auslandsstudium in die chinesische Provinz zurückkommt. Mitgebracht hat er den Wunsch, eine Streichholzfabrik zu gründen – und einen französischen Ingenieur, der ihm dabei helfen soll. Doch zunächst wird erst einmal geheiratet. Die Braut, die „junge Herrin“ ist so liebreizend, dass sich sowohl „Ohrwaschel“ als auch der Ausländer schlagartig in sie verlieben. Nur der „Zweite Herr“ zeigt wenig Interesse an der Schönheit. Er kümmert sich lieber um seine Streichholzfabrik, die er dazu benutzt, heimlich Sprengstoff herzustellen. Den Haarzopf als Zeichen der kaiserlichen Gesinnung hat er bereits abgeschnitten. Bald wird er sich den rebellischen „Blauen Turbanen“ anschließen.

Wie der „Zweite Herr“ fallen alle Mitglieder der Großgrundbesitzerfamilie der Cao aus ihren traditionellen Rollen. Das Familienoberhaupt, der „Alte Herr“, liegt nur noch im Bett und ist geplagt von Todesangst. Diese versucht er mit allerlei Süppchen und abstrusen pseudomedizinischen Heiltränken zu bekämpfen, was sinnbildlich für den Verfall der Familie und der gesamten feudalen (Gesellschafts-)Ordnung steht. Das Gesicht des Alten sieht nach all diesen Konservierungsversuchen bald so verfault aus wie die Köpfe der Rebellen, die kaiserliche Truppen zur Abschreckung im Hafen aufspießen lassen.

Auch seine Frau, die Alte Herrin, lebt in anderen Sphären. Sie strebt durch buddhistische Meditation und rituelles Fasten nach der Unsterblichkeit – und hungert sich dadurch fast zu Tode. Ihr Mann dagegen flößt sich selbst Monatsblut und Knabenurin ein. Schließlich verspeist er sogar die Plazenta des Enkels. Womit das Schlüsselthema des Untergangs der Cao angedeutet ist: die Unfähigkeit der Söhne, einen Stammhalter zu zeugen. Der älteste Sohn, der „Erste Herr“, hat zwar mehrere Frauen, bekommt jedoch nur Töchter – in China ein Symbol für fehlende Manneskraft. Und der „Zweite Herr“, auf dem die Hoffnungen der Familie nun ruhen, vernachlässigt seine Braut vollends.

Als die „junge Herrin“ darum eine Affäre mit dem Franzosen beginnt, aus der ein Kind entspringt, ist der Niedergang der Familie endgültig unaufhaltsam. Der Diener „Ohrwaschel“ beobachtet dies alles mit sehr wachen Augen. Nachts steigt er seinen Herren buchstäblich aufs Dach, hört und schaut dabei genau zu, was sie reden und tun. „Bekenntnisse eines Hundertjährigen“ ist in diesem Sinne ein Schelmenroman, in dem der Leser stets ein wenig mehr weiß, als der scheinbar unbekümmert drauflos plaudernde, etwas naive junge Erzähler, der die Dinge erst viel später versteht.

Liu Heng verpasst seiner Hauptfigur eine einfache, derbe Sprache. „Ich rede so dreckig, wie mir der Schnabel gewachsen ist“, sagt der Erzähler zu Beginn des Romans. Ein Kniff des Autors, um für Authentizität zu sorgen. Als solche ist die Sprache jedoch auch Ausdruck der brutal-obszönen Gesellschaft, deren Panorama Heng überzeugend zeichnet. Die Geschichte der Familie Cao startet in beschaulichen Szenerien und endet in einem rasenden, tödlichen Inferno. Und das ist mitreißend erzählt. Dass der Plot dabei auch vor Sentimentalitäten nicht zurückscheut, entspricht – je nach Sichtweise – entweder der logischen Erzählhaltung eines Greises oder zielt auf den chinesischen Massengeschmack.

Das hiesige Publikum wird den Roman ebenso zu schätzen wissen.

Literaturangabe:

HENG, LIU: Bekenntnisse eines Hundertjährigen. Aus dem Chinesischen von Ingrid Müller und Zhang Rui. Carl Hanser Verlag, München 2009. 384 S., 21,50 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag

 


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