Seit zehn Jahren hat die Literatur das Thema der Kriegskinder (wieder-)entdeckt. Sehr erfolgreich war der 1998 erschienene Roman des 1952 geborenen Autors Hans-Ulrich Treichel, „Der Verlorene“, in dem das Trauma beschrieben wird, das der 1945 auf der Flucht verloren gegangene Bruder in der Familie ausgelöst hat und das bis in die Wirtschaftswunderjahre hinein ein intaktes Familienleben verhinderte. 2003 erschien der Roman „Himmelskörper“ der Autorin Tanja Dückers, die 1968 in Berlin geboren ist. Auch bei ihr ist das Verhältnis zwischen der im Krieg geborenen Mutter Renate und der schwangeren Tochter nachhaltig gestört, nicht zuletzt dadurch, dass die durch den Tod der Großeltern bedingten Fragen nach „damals“ unerträglich werden.
Das sind nur zwei Beispiele von mehreren, wie die Literatur sich dem Thema der „vergessenen Generation“ nähert. Die Autorin Sabine Bode wählte diesen Titel für ihr 2005 das erste Mal und jetzt in 10. Auflage erschienenes Buch. Der Untertitel präzisiert ihr Thema: „Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“.
Auch hat in diesem Jahr die Entdeckung der dänischen Ärztin und Historikerin Kirsten Lylloff über die menschenverachtenden Zustände in den dänischen Lagern zwischen 1945 und 1948 die Öffentlichkeit erschreckt. Noch in den letzten Kriegswochen zwischen Februar und Mai 1945 kamen über die Ostsee aus dem untergehenden Deutschen Reich 250.000 Flüchtlinge nach Dänemark, die vor den Sowjets geflüchtet waren. Ein Drittel war unter 15 Jahren. In dem größten Lager in Oksboll lebten 37.000 Deutsche, allein 1945 starben 13.000, darunter 7.000 Kinder unter fünf Jahren, aufgrund von Unterernährung und miserabler medizinischer Versorgung. Damit kamen mehr deutsche Flüchtlinge in dänischen Lagern ums Leben, schreibt Lylloff, als Dänen während des gesamten Krieges. Diese Erlebnisse bleiben als Trauma den Überlebenden ein Leben lang.
In dem soeben erschienenen und auf vielen Veranstaltungen diskutierten Werk von Andreas Kossert, „Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945“, wird die Frage nach dem Gelingen der Integration der Vertriebenen in den Mittelpunkt gerückt und verneint. Zu diesem Ergebnis kommt, wenngleich auf ganz andere Art und Weise, auch die WDR-Journalistin Sabine Bode, Jahrgang 1947. Sie lässt die Kriegskinder, die heute im Rentenalter sind, selbst reden. Das ist eine Herangehensweise, die bisher vernachlässigt wurde. Und so wundert sich die Autorin nicht selten, dass sie auf so wenig wissenschaftliches Material und Untersuchungen zurückgreifen kann.
Fünfeinhalb Millionen Kinder verloren ihre Heimat, mussten sich in den neuen Verhältnissen zurechtfinden. Da über die Kinder der Bombennächte noch weniger Untersuchungen vorliegen, hat Sabine Bode ihren Schwerpunkt auf diese Gruppe gelegt, sie hat die Jahrgänge von 1930 bis 1945 befragt, obwohl ihr bewusst ist, dass ein großer Unterschied besteht, ob ein pubertierendes Kind, ein Schulkind oder ein Kleinkind dieser Katastrophe ausgesetzt ist. Bei jenen, die die Angriffe bewusst erlebt haben, überwiegt die Erkenntnis, anderen ging es noch schlimmer. Über die möglichen Kriegsfolgen befragt, wird geantwortet: Es hat uns nicht geschadet. So ist es ihnen beigebracht worden. Probleme wurden unter den Tisch gekehrt, wir sind eine heile Familie.
Die Fotos von damals zeigen sehr ernste, erwachsene Kinder. Diese Kinder haben sich für das Überleben der ganzen Familie verantwortlich gefühlt, der große Bruder, die große Schwester hatten die Last für die Kleinen und nicht selten auch für die gestresste Mutter und den aus Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Vater zu tragen. Obwohl die Kinder so früh erwachsen und angepasst waren, geschieht etwas, was zwar nicht deutschlandtypisch ist, aber dennoch unter den gegebenen Umständen verwundert: die insbesondere nach Rock-and-Roll-Konzerten auftretenden Unruhen der Halbstarken. Besonders die im Krieg geborenen Unterschichtkinder machten sich Luft.
Der Soziologe Helmut Schelsky hatte in seinem 1957 veröffentlichten Buch „Die skeptische Generation“ hauptsächlich die 1930er-Jahrgänge im Auge, denen er als Hauptmotiv Anpassung, Überleben, eine Existenz aufbauen zuschrieb. Die Jüngeren jedoch hielten sich an Vorbilder wie James Dean, den Aufmüpfigen, oder Marlon Brando, den Ungebändigten. Sie knackten Autos oder Automaten und begannen die Werte der Eltern infrage zu stellen.
Die scheinbar angepassten deutschen Jugendlichen übernehmen fremde Werte von Unabhängigkeit und Freiheit, die ihnen so nicht beigebracht worden sind. Hier beginnt die 68er-Bewegung, in dem viel beschworenen Jahr 1968 geht sie zu Ende. Schelsky konnte damals noch nicht ahnen, was die Halbstarken-Bewegung bewirken würde, er konstatierte, dass es sich um eine Minderheit handele.
Dass es in Deutschland Menschen mit Kriegsverletzungen gegeben hat, wurde nie bestritten, nur wurde es eben auch nicht an die große Glocke gehängt. Wir sind noch mal davon gekommen, war die Devise. Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser vermutet in der Tatsache, dass in Westdeutschland das Kurwesen so weit verbreitet war wie in keinem anderen Land, stillschweigende Angebote der Linderung für die Menschen, die noch immer an Kriegsfolgen litten. Wie sehr diese Erlebnisse aus der Kindheit bis in das Rentenalter greifen, zeigt das Gedicht einer Hamburgerin „Der freie Fall“: „Ich will nicht auffallen / Am besten gar nicht fallen / Im freien Fall weiß man nicht, wo man landet. / Mir ist so vieles abhanden gekommen – entfallen. / Das Suchen bringt gar nichts zurück / Ich brauche Gewißheit / Gewiß doch“.
Bei ihren Recherchen findet Sabine Bode immer wieder Menschen, die es nicht zulassen können, dass ihr verpfuschtes Leben eventuell mit den verdrängten Kriegserlebnissen zu tun haben könnte. Aus der Holocaust-Forschung weiß man, dass Traumatisierungen in die nächste und übernächste Generation greifen können. So fällt Sabine Bode auf, dass sich auch noch die in den Sechzigern geborenen Kinder der 1930er-Eltern anschweigen. Hier kann man nicht wie bei den 68ern davon ausgehen, dass die Eltern Täter waren, die Eltern waren Kinder. Sie schweigen also nicht aus Scham, sondern aus Betroffenheit und Verletzung. „Das sind kollektive Geheimnisse“, mutmaßt die Ärztin Luise Reddemann. „Und ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dies betrifft hierzulande fast jeden. Man müsste eigentlich bei jedem Menschen, der Schwierigkeiten hat, nachfragen: Wie war das bei Ihnen zu Hause? Und was war mit Ihren Eltern im Krieg? Und was war mit Ihren Großeltern? Wo waren sie? Was haben sie gemacht?“
Bei den Probanden der Autorin fällt auf, dass der überwiegende Teil der Befragten Alkohol- oder Drogenprobleme hat(te), und dass in der ersten und in der zweiten Generation. Dieses kollektive Schweigen führt verstärkt dazu, sich noch mehr zuschütten zu müssen, denn sonst müsste man ja sein Leid hinausschreien - und das will niemand hören, bis jetzt.
Noch ist die mangelnde Empathie den deutschen Kriegskindern gegenüber vorherrschend, aber seit dem umstrittenen Buch von Jörg Friedrich „Der Brand“ ist Bewegung in die Fronten gekommen. Ich erinnere mich an einen Satz von Reich-Ranicki, der etwa so lautete: Das Leid eines Holocaust-Kindes ist ebenso schlimm wie das eines Kindes in den Brandnächten von Hamburg. Der jüdische Holocaust-Forscher Micha Brumlik findet zwar, dass das Grauen der Vernichtungslager schwerer zu ertragen gewesen sei, aber: „Gleichwohl ist es wichtig, daß die Deutschen auch ihre eigenen Verletzungen wahrnehmen, denn solange dies unterbleibt, können sie nicht wirklich Empathie, sprich einfühlendes Verständnis für andere Opfer entwickeln.“
In dem Nachwort kommt die Traumatherapeutin Luise Reddemann, selbst ein Kriegskind, ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es für ein kleines Kind keine Rolle spielt, wer schuld am Krieg ist. Es leidet einfach darunter, dass der Vater nicht da ist, die Mutter Ängste hat, dass es hungert und friert. Nach dem Krieg zählte diese Erfahrung nicht, das Kind musste funktionieren, als sei nichts geschehen. Für Trauer war keine Zeit, sie war nicht erlaubt. Die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich nannten nicht zufällig ihr in den 1960ern erschienenes Buch die „Unfähigkeit zu trauern“.
Nehmen wir Kriegskinder uns Zeit für unsere Trauer, mit dieser Erkenntnis entlassen uns die beiden Autorinnen, wir gehen ja jetzt in Rente …
Von Jenny Schon
Literaturangaben:
BODE, SABINE: Die vergessene Generation. Kriegskinder brechen ihr Schweigen. 10.Aufl. Piper Verlag, München/Zürich 2008. 288 S., 8,95 €.
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