Von Klaus Hammer
Eigentlich versprechen die Titel der Blätter nichts Außergewöhnliches: Küste bei Neapel, felsige Bucht, Flusstal mit Hügeln, Bäumen und Büschen, Häuser an der Landstraße, Wald am Berghang, der Hafen von Amalfi, Wasserlauf zwischen Häusern, Mühle in einer Waldschlucht, der Blick auf Ravello. Es ist das Flüchtige des gegenwärtigen Augenblicks, das hier eingefangen wird. Landschaftsmotive, Natur wie Architektur, hat Carl Blechen aus dem spontanen Umgang mit Bleistift, Sepiatusche und Pinsel, seltener mit der Feder, gestaltet. Man spürt in der schnellen Anlage einzelner Skizzen die Faszination des Augenblicks und das, was ein Kritiker später als „Launen der Natur“ in der Zufälligkeit ihrer Erscheinung bezeichnet hat.
Prospektartige Ausschnitte wechseln mit architektonischen und landschaftlichen Details auf kleinem Raum. Die Erscheinungsformen der Gegenstände wechseln ständig im Spiel von Licht und Schatten. Helle und dunklere Flächen werden gegeneinandergesetzt, hart kontrastiert der weiße Papiergrund mit den bearbeiteten Feldern. Die Tinte kann sich bis zur völligen Transparenz verdünnen oder in dunklen Flecken konzentrieren. Mal sind die Blätter in starkes, gleißendes Sonnenlicht getaucht und es entsteht der Eindruck flirrender Hitze, mal vermittelt das Meer oder der Flusslauf in den Tälern lindernde Kühle. Licht und Schatten wechseln sich nicht nur ab, sie rhythmisieren die Bildfläche, konkretisieren die Formen der Gegenstände oder lösen sie auf. Sie trennen Zusammenhängendes – Räume wie Gegenstände - oder fügen Getrenntes zusammen. Mitunter scheinen sich ein Wasserlauf, Bäume oder Gebäude unter der starken Sonneneinwirkung förmlich aufzulösen. Alles verschwimmt dann in einem diffusen Ungefähr der Landschaft. Zahlreiche Blätter haben ein geradezu abstraktes Erscheinungsbild, die ihnen eine ungeheure Modernität verleihen, die erst wieder von August Mackes Tunis-Aquarellen des Jahres 1914 eingeholt werden.
1828 war Blechen zu einer 14-monatigen Reise nach Italien mit längeren Stationen in Rom, Neapel und Amalfi und deren Umgebung aufgebrochen. An der neapolitanischen und amalfitanischen Küste hielt er sich neun Wochen auf, hier entstanden die Zeichnungen des Amalfi-Skizzenbuchs, die zu einem Höhepunkt der Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts werden sollten. Von dem durch Heinrich Brauer und Paul Ortwin Rave rekonstruierten Bestand von 66 Blättern, die schon 1840 durch die Königliche Akademie der Künste aus dem Künstlernachlass erworben wurden, befand sich seit 1945 der größte Teil in der Westberliner Akademie der Künste, der Rest als Dauerleihgabe der Ostberliner Akademie der Künste in der Handzeichnungssammlung der Ostberliner Nationalgalerie. Nach der Wiedervereinigung blieben zwei Blätter im Berliner Kupferstichkabinett zurück, die übrigen kamen wieder in der Berliner Akademie der Künste zusammen. Ausgewählte Blätter, vor allem die Sepiazeichnungen, sind immer wieder gezeigt worden. Jetzt aber, im 170. Todesjahr des Künstlers, wird erstmals der Gesamtbestand des Amalfi-Skizzenbuchs in der Alten Nationalgalerie – in unmittelbarer Nachbarschaft der Gemälde Blechens – vorgestellt (bis 1. April 2010). Ein Augenerlebnis besonderer Art. Wie hat man diese Blätter zu bewerten?
Zur Ausstellung, die bereits in der Hamburger Kunsthalle gezeigt wurde und nach ihrer Station in Berlin nach Rom an die Casa di Goethe weitergeht, ist eine eigenständige Publikation erschienen, die von der Herausgeberin Rosa von der Schulenburg als „Plädoyer für eine Sehkultur des aufmerksamen Verweilens“ bezeichnet wird. In der Tat werden hier nicht nur alle Blätter des Skizzenbuchs in hervorragender Qualität reproduziert, sondern auch von ausgewiesenen Spezialisten aus unterschiedlichen Perspektiven kommentiert. Rosa von der Schulenburg, Leiterin der Kunstsammlung der Akademie der Künste, beschäftigt sich mit der Geschichte, dem Zustand und den Reproduktionsproblemen des Amalfi-Skizzenbuchs. Birgit Verwiebe, Co-Kuratorin der Berliner Ausstellung, widmet ihre Betrachtungen der Pflege des Werkes von Blechen in der Nationalgalerie seit Anbeginn ihres Bestehens. Nicht von ungefähr besitzen heute die Nationalgalerie und das Kupferstichkabinett die mit Abstand größte Sammlung dieses genialen Malers und Zeichners.
Uta Simmons unterrichtet über die Lehrtätigkeit Blechens an der Königlichen Akademie der Künste, Mareike Hennig, Kuratorin der Ausstellung, wendet sich den spezifischen Besonderheiten des Amalfi-Skizzenbuches zu und den Spuren Blechens in Kampanien folgt Dieter Richter. Aufschlussreiche Beobachtungen zur Skizzentechnik Blechens stellt Annik Pietsch an, den Kontrast von Licht und Schatten im Skizzenbuch untersucht Reinhard Wegner und „das vom Licht erbaute Bild“ demonstriert Kilian Heck an den beiden Sepien „Bäume und Häuser“ und „Besonnte Bäume in Amalfi“. Von unschätzbarem Wert sind die intensiven Bildbeschreibungen der 66 Blätter von Mareike Hennig; sie vor allem sind eine Bestätigung für jene „Sehkultur des aufmerksamen Verweilens“.
Blechen hat während der Italienreise das Studium in der Natur zu einer Methode eigener Qualität gestaltet. Die in der Natur, unter ihrem unmittelbaren oder diesen nacherlebenden Einfluss gearbeitete Landschaftsskizze ist nicht mehr nur ein vorbereitendes Element für spätere Darstellungen, sondern ein eigenwertiges Medium der Welterfahrung neben dem Staffeleibild, ausgezeichnet durch besondere, unverwechselbare Momente der Auffassung und Gestaltung. Die Skizzen der neapolitanischen und amalfitanischen Landschaften kennzeichnet ein hohes Maß der Eigenwertigkeit, ihre dramatische Auffassung und zugleich spröde Gestaltung entbehren der Potenziale für eine später Umsetzung oder Verwertung.
Die Unmittelbarkeit von Licht und Stimmung lässt nicht so ohne weiteres die Möglichkeit einer malerischen Umsetzung oder Übertragung zu. Blechen richtet sich hier auf den Augenblick, auf das Plötzliche, „Frappante“ der Naturerscheinungen, auf die „Launen“ der Natur in deren „speziellen Konflikten“. Er begreift Natur nicht in einem vorgestellten Sinne, die italienische Landschaft nicht in einer vorgeprägten Erwartung, sondern in der Unmittelbarkeit als Realität. Gleichwohl gelingt es ihm, seine Sicht von Natur mit den Erfahrungen der vorangegangenen Theaterarbeit zu vermitteln. Die früher erworbene künstlerische Identität lässt ihn Natur auch theatralisch erleben und inszeniert sehen. Blechen versteht die Erscheinungen der Natur so auch als Inszenierungen ihrer Realität.
Als Betrachter hat man die Vorstellung, als stünde man selbst schauend mitten im Bild. Aber der Schein trügt. Was sich dem Betrachter suggestiv öffnet, ist ihm tatsächlich unzugänglich. So wird alles zur Distanz in der Nähe, zum „Schauspiel“ und bedeutet eine Grenze, die am unteren Bildrand wirksam wird, also genau dort, wo der Betrachter meint mittendrin zu sein.
Die Distanzlosigkeit ist ein kalkulierter Schein. Die Unmittelbarkeit seiner Natur ist inszenierte Nähe, eine Schaustellung der Natur, eine Zwischenzone des Wirklichen und Unwirklichen. Licht und Schatten, die die penibel aufgenommenen Gegenstände partiell wieder auflösen und die Flüchtigkeit einer Naturerscheinung anschaulich machen, sind eine künstlerische Ergänzung der produktiven Einbildungskraft des Künstlers. Der Hell-Dunkel-Kontrast, so macht Reinhard Wegner in seinem Beitrag deutlich, trennt ja nicht nur Räume oder Gegenstände, er charakterisiert auch ein und dasselbe Objekt in der Simultanität von hellem Umriss und dessen Abbild als dunklem Schattenriss.
Licht und Schatten sind inszeniert. Das Licht bewirkt eine atmosphärische Verdichtung hohen Ranges. Die Landschaft gewährt keine Ruhe, die Reize des ersten Blicks verdichten sich nicht zu einer in sich gefestigten, sich selbst genügenden Harmonie italienischer Idealität, die den Betrachter aufnimmt. Die Landschaft bietet auch keine Möglichkeit, sanft fließende Raumzonen mit idyllischen Winkeln und pittoresken Motiven dahingleitend zu erleben; die dem reisenden Künstler ideale Landschaft ist in Blechens Bild keine Ideallandschaft. Gemessen an dem, wie andere vor und neben Blechen Italien erlebten, erfüllt seine zerspannte Sicht und Gestaltung das Gegenwärtige mit Unrast, Irritation, widersprüchlichen und unvereinbaren Wünschen. „Blechens Zeichnungen visualisieren im Wechselspiel von Licht und Schatten einen Schwebezustand zwischen Wirklichkeit und Imagination. Von ihnen geht eine Faszination aus, gerade weil sie den Betrachter zum ständigen Wechsel der Wahrnehmung vom konkreten Landschaftsraum zur abstrakten Fläche herausfordern“, so Reinhard Wegner.
Die Skizze ist also hier nicht nur als übliche Vorbereitung eines Staffeleibildes zu werten. Sie behauptet in ihrer flüchtigen Gestalt die Authentizität des Augenblicks und mithin die Ahnung einer Ganzheit, wie sie blitzartig nur im Augenblick erlebt wird. In der Skizze erlebt man den gleitenden Duktus der Handschrift, die verschmelzenden Formen und fließenden Farben als einen beglückenden Augenblick, der erfüllt ist von der realen Sinnlichkeit dieser italienischen Welt. In der Skizze, in der authentischen Unmittelbarkeit, gibt die Natur für einen Augenblick eine Ahnung ihrer vollen Wirklichkeit preis, dies macht den „Realismus“ der Amalfi-Skizzenblätter aus.
Nur 14 Schaffensjahre waren Blechen vergönnt, in denen er von einem Hauptmeister der Romantik zum Vorläufer und Begründer der Freilichtmalerei in der deutschen Kunst wurde. Die Aneignung von Wirklichkeit nach den Besonderheiten von Licht und Farbe, die Ambivalenz zwischen präziser Wirklichkeitserfassung und objektivierender Abstraktion, kurz: die Abstraktion im Realismus machen das Amalfi-Skizzenbuch zu einem herausragenden Ereignis in der Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts.
Literaturangabe:
BLECHEN, CARL: Mit Licht gezeichnet. Das Amalfi-Skizzenbuch aus der Kunstsammlung der Akademie der Künste, Berlin. Eine Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Hamburger Kunsthalle, der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, und der Casa di Goethe, Rom. Hrsg. von Rosa von der Schulenburg. Akademie der Künste, Berlin 2009. 215 S., 35 €.
Weblink: Akademie der Künste