Von Leonhard Reul
Im Akademie Verlag ist eine vorzügliche Krankenhausgeschichte erschienen. Den Herausgebern Johanna Bleker und Volker Hess ist zu diesem Buch nur zu gratulieren. Denn sie schaffen es mit ihren Co-Autoren (allesamt Medizinhistoriker in Berlin), das schöne Motto des Akademie Verlags „theoria cum praxi“ lebendig zu halten. Präsentiert wird nicht „nur“ die hochspezifische Geschichte des nun 300 Jahre alten Berliner Krankenhauses mit all seinen großen und kleinen Namen, Errungenschaften und Verdiensten. Das wäre von einer solchen Festschrift ja eigentlich zu erwarten gewesen. Den Autoren gelingt indes viel mehr. Sie liefern eine lesenswerte Medizingeschichte mit gut gewählten zeitgeschichtlichen Verknüpfungen. Ferner sind die (wissenschaftlichen) Veränderungen, die in der Charité gemacht wurden, in ihrer Wirkweise auf den Krankenhausalltag anschaulich dargestellt. In jedem Kapitel wird eine „Karteileiche“, ein Patient der jeweiligen Zeit, begleitet und dem Leser wird offenbar, was es hieß, in der Charité als Armer, Zunftgeselle, Krankenversicherter oder Privatpatient mit den jeweils vorherrschenden Methoden oder auch gewagten Innovationen behandelt zu werden.
Der Band umfasst neun Kapitel, die allesamt auch für den interessierten Laien sehr lesbar sind. Selten tauchen unerklärte medizinische Fachtermini auf, fast immer ist alles Schritt für Schritt erklärt und mit schönen Abbildungen, Tabellen und Grafiken verständnisfördernd versehen. Dank des vorangestellten Tabellen- und Abbildungsverzeichnisses findet sich schnell das gegebenenfalls im Nachhinein nochmals Gesuchte. Auch Register und Literaturverzeichnis genügen jedem Anspruch. Hier merkt man, dass ein wissenschaftliches Personal am Buch gearbeitet hat. Diesem Personal sei aber hoch angerechnet, dass es eine möglichst breite Leserschaft mit auf die medizinhistorische Reise nehmen will und sich weder in zeitraubende Details noch in krude Überhöhungen der zu feiernden berlinischen Institution verliert. Das ist das wirklich Schöne am Buch: Geschrieben wird nur das, was belegbar ist – mit alten Mystifizierungen wird gebrochen. Für eine Festschrift ist dieses nüchterne Vorgehen sehr bemerkenswert.
Doch was steht nun inhaltlich im Band? Das erste Kapitel, das sich dem Zeitraum 1710-1790 widmet, befasst sich mit Gründung und Zweck der Charité. Nicht der mildtätige Zug der damaligen Regenten führte zur Errichtung der Charité, sondern militärische Notwendigkeit. In Friedenszeiten galt es, an den nächsten Krieg zu denken und hierfür auch medizinisches Personal zu schulen, um im Feld dann die Verluste gering zu halten. Über ein kontingentiertes, aber attraktives Stipendiensystem konnten sich Bader und anderes niederes medizinisches Personal an der Charité weiterbilden. Der Vorzug dieser Einrichtung vor den Toren Berlins lag in der praxisnahen Erprobungsmöglichkeit der vermittelten theoretischen Kenntnisse. Hier kommen die Armen, die zunächst einfach nur in dem nie gebrauchten Pestasyl als obdachlose Bedürftige einquartiert waren, ins Spiel. Eine Erprobung von gravierenden medizinischen Eingriffen wäre bei der betuchteren innerstädtischen Klientel unmöglich gewesen. So jedoch stand den Feldschern und Barbieren „auf Weiterbildung“ die Klientel der bedingungslos auf Hilfe Angewiesenen zur Verfügung. Spätere Interventionen der Armenfürsorge, des Hauptzuweisenden an Kranken, schränkten diese Praxis etwas ein.
Das zweite Kapitel befasst sich mit der psychiatrischen Abteilung, die im Intervall 1790-1820 zusehends Erfolge bei der Behandlung von Geisteskranken feiern konnte. Hier wird der Leser über interessante Konzepte der Stabilitätserwirkung aufgeklärt. Zum einen legte die eigene Abteilung der Psychiatrie einen hohen Wert auf strenge Befolgung eines ausgeklügelten Tagesablaufes, der den Kranken Struktur und von außen aufs Innere wirkende Ordnung bringen sollte. Dieses Erfolgskonzept ging einher mit Versuchen, die heute unsinnig erscheinen. Einer bediente sich der Zentrifuge, mit der der Kranke schnell im Kreis gedreht wurde, um dann mit mehr Blut im Kopf wieder besser und vernünftiger denken zu können. Die großen Erfolge im psychiatrischen Fachbereich ließen dann erstmals auch bislang unzureichend therapierte Privatpatienten fern der Stadtgrenzen in die Charité strömen. Das Fallbeispiel vom norddeutschen Pastor illustriert diesen Wandel der Klientel in der Berliner Klinik. In den Folgejahren sollte sich durch ein ausgeklügeltes Versicherungswesen auch der Anspruch der Patienten ans medizinische Personal wandeln – vom Bittsteller zum Anspruchsberechtigten.
Eine weitere therapeutische Revolution wird im dritten Kapitel, das die Jahre 1820-1850 umfasst, ins Zentrum gestellt: die Fieberbehandlung. Nicht mehr die äußeren Symptome wie Krämpfe oder Wallungen, sondern die mittels Thermometer messbare Körpertemperatur wird zum Hauptaugenmerk in der Krankheitsbehandlung. Fieberkurven machen dem Arzt den Zustand des Patienten offenbar. Diese Kurven wurden anfangs noch vom Arzt selbst erstellt und dann an Studenten oder Schwesternpersonal in Aufgabenteilung abgetreten. Ferner geschah zu dieser Zeit auch ein Wandel im Dokumentationswesen – nicht mehr Tagbücher für ganze Stationen wurden geführt, sondern individualisierte Krankenblätter, die einen schnellen Zustandsüberblick gewährten. Das Fieber wurde übrigens damals mit kalten Wassergüssen erfolgreich gesenkt.
Kapitel vier widmet sich der Chirurgie als aufkommende akademische Disziplin (1850-1890), im fünften Kapitel erfährt man einiges über neu errichtete Räume, die dem Charité-Boykott des Jahres 1893 folgten. Bei diesem Boykott demonstrierten die sozial Schwachen gegen die desolaten hygienischen Zustände des wieder zusehends kasernenartig geführten personalschwachen Krankenhauses. Zudem stellte die Stadt damals zu geringe Mittel für eine drohende Choleraepidemie zur Verfügung – ein vom sozialdemokratischen Blatt „Vorwärts“ angeprangertes Vorgehen. In den letztlich so erkämpften neuen Räumen konnten dann auch nach und nach Kinderkrankheiten behandelt werden. Ein „Dauerbrenner“ in der Charité waren die Syphiliskranken, die natürlich auch in den „goldenen Zwanzigern“ zu behandeln waren – dies betrachtet Kapitel 6.
Danach strukturiert die deutsche Geschichte die letzten Kapitel: der Nationalsozialismus mit all seinen abscheulichen eugenischen und rassenhygienischen Forderungen an die Medizin. Durch die Vertreibung eines beträchtlichen Personalanteils kam es in Tateinheit mit der neuen medizinischen Ausrichtung zu Widerstand – aber natürlich auch zu Anpassung oder gar Kollaboration. Der Zeit zwischen Kriegsende und doppelter Staatengründung war auch für die Charité eine „Trümmerzeit“ mit eingeschränkten Möglichkeiten. Der Personalmangel führte indes dazu, dass in dieser Zeit entgegen der strengen Entnazifizierungsvorgaben als unentbehrlich eingestufte (durch NSDAP-Mitgliedschaft oder Schlimmeres) belastete Mediziner weiterhin unbehelligt im Klinikum tätig bleiben konnten.
Sehr spannend ist zum Beschluss noch der Zeitabschnitt 1949-1961, in dem Sabine Schleiermacher und Udo Schagen die Fusion der Charité mit medizinischer Fakultät, das Gesundheitswesen der DDR und deren Staatsziel „Gesundheitsschutz“ nicht ohne Einfluss der SED und weiterer Organisationen auf den Klinikalltag darstellen. Drei Exkurse widmen sich der SED-Struktur, der staatsicherheitlichen Tätigkeit und der Gewerkschaftsarbeit an der Charité. Einen Ausblick in die „nach 1961-Zeit“ bietet Volker Hess’ Epilog, der das schöne Buch abrundet und das vermeintlich zu frühe Ende der historischen Darstellung erklärt. Prädikat: Sehr lesenswert!
Literaturangabe:
BLEKER, JOHANNA / HESS, VOLKER (Hrsg.): Die Charité. Geschichte(n) eines Krankenhauses. Akademie Verlag, Berlin 2010. 299 S., 52 SW-Abb., 69,80 €.
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