Von Matthias Hoenig
Die Erwartungen an einen der bedeutenden literarischen Buchtitel dieses Herbstes sind groß: Mit einer Bestsellerauflage von 150.000 Exemplaren erscheint an diesem Freitag (29. August 2008) „Die Box“, das neue autobiografische Werk von Günter Grass. Schon im Vorfeld herrschte gespannte Neugierde, ob der Nobelpreisträger (80) wie in seiner vor zwei Jahren Schlagzeilen machenden Jugend-Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ bislang Unbekanntes aus seinem Leben preisgeben würde – wie seine Zeit bei der Waffen-SS kurz vor Kriegsende als 17-Jähriger.
Leser, die allein auf spektakuläre Enthüllungen hoffen, dürften enttäuscht sein. Doch es wäre ein fatales Missverständnis „Die Box“ als Fortschreibung der Jugend-Erinnerungen lesen zu wollen, die bei aller schriftstellerischen und stilistischen Kunstfertigkeit sehr nah an der Realität bleiben.
Das neue Buch reicht von Anfang der 1960er Jahre bis in die 1990er. Es ist sehr persönlich, fast intim und literarisch außergewöhnlich angelegt: märchenhaft durchwirkt, heute würde man sagen ein bisschen fantasy oder mystery. Den Märchenton schlägt Grass jetzt schon im ersten Satz der „Box“ an: „Es war einmal ein Vater“ und gibt damit das Thema vor.
Das Buch handelt von Grass als Vater und seinen insgesamt acht Kindern – sechs eigenen (von drei Frauen) und zwei von seiner Frau Ute in die Ehe eingebrachten. Grass bittet in, wie sich herausstellt, fiktiven Sitzungen die längst erwachsenen und zum teil selber schon graue Haare zählenden Kinder, zusammenzukommen und über ihre Kindheitserinnerungen zu berichten. Mehrfach treffen sich die Kinder mit dem Alten, jeweils in der Wohnung eines anderen.
Es wird mehrstimmig berichtet, berlinert, in kurzen, manchmal unvollendeten Sätzen gesprochen, dazwischengerufen. Es entsteht das Bild eines fast schon besessen schreibenden und politisch engagierten Schriftstellers, der als fürsorglicher Vater immer nur wenig Zeit für seine Kinder hat. Ein Partner, dessen erste Ehe möglicherweise deswegen scheitert, weil sich das Paar nie offen gestritten hat. Das Bild eines Mannes, der in der Midlife-Crisis von zwei Frauen zwei uneheliche Kinder bekommt und schließlich bei „Kamillchen“, seiner jetzigen Frau Ute, innere Ruhe und Geborgenheit findet. Und die Kinder erzählen von sich, von Schulproblemen, von kleinen Diebstählen, unglücklichen Jugendliebschaften. Und sie blicken zurück auf den Vater und seine Beziehung zu seinen „vier starken Frauen“.
Doch Moment, da wäre noch eine fünfte. Maria Rama, Fotografin, die jahrzehntelang die Familie Grass mit ihrer alten Agfa-Box aus den 1930er Jahren begleitete – und zudem für Günter Grass Recherche-Fotos für seine Bücher machte. Maria Rama, seit Jahren tot, gab es wirklich, Grass hat ihr bereits 1973 den Gedicht-, Grafik- und Fotoband „Mariazuehren“ gewidmet und auch das neue Buch soll an sie erinnern, wie es in der Widmung heißt.
Die alte Agfa-Box von Maria Rama nutzt Grass jetzt zu einem literarischen Kunstgriff. Der Apparat kann nicht nur die Realität abbilden, sondern auch Vergangenes und Zukünftiges zeigen – oder auch frühere Wunschbilder der Kinder machen. Eines der unehelichen Kinder sieht auf einem Negativ sich gemeinsam mit beiden Eltern auf dem Kettenkarussell glücklich durch die Lüfte sausen. Grass selbst sieht auf einem Bild, als die Familie in jungen Jahren Badeurlaub an der französischen Atlantikküste macht, plötzlich seine Jungen in Militäruniform kurz vor der Invasion der Alliierten.
Diese drei Ebenen von surrealen, imaginären Wunsch- und Schreckensbildern, von vermeintlich authentischen Erinnerungen der Kinder und dazu die sparsam eingestreute Perspektive des Vaters machen die „Die Box“ zu einem einzigartigen, unvergänglichen literarischen Familienalbum seiner geliebten Patchwork-Familie. Grass hämmert sozusagen auf seiner alten Olivetti-Schreibmaschine Bilder, die den Leser mal erheitern, mal schrecken und mal nachdenklich machen.
Die Schwäche dieses autobiografischen Buches liegt ausgerechnet in seiner Stärke, der anspruchsvollen literarischen Konstruktion. Es fällt anfangs schwer, sich einzulesen. Die Namen der Kinder sind geändert, die der Frauen oder anderer Personen werden nicht konkret genannt. Die Sitzungen mit den Kindern sind erfunden, somit auch ihre Äußerungen. Wer die Grass’sche Familienbox und alles, was sich darin – oft in Andeutungen – befindet, genauer verstehen will, kann sich schlaumachen – etwa mit der bereits vor Jahren erschienen Grass-Biografie des früheren „Stern“-Chefredakteurs Michael Jürgs. Die Lektüre der „Box“ dürfte dann noch ergiebiger sein.
Literaturangaben:
GRASS, GÜNTER: Die Box. Dunkelkammergeschichten. Steidl Verlag, Göttingen 2008. 215 S., 18 €.
Verlag
Günter Grass im BLK-Blickpunkt