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„Die Demütigung“

Ein Schauspieler-Schicksal - Philip Roth’ neuer Roman

© Die Berliner Literaturkritik, 09.06.10

MÜNCHEN (BLK) – Im März 2010 ist im Carl Hanser Verlag Philip Roth’ Roman „Die Demütigung“ erschienen.

Klappentext: Für Simon Axler geht es bergab. Mit sechzig hat er, einer der besten Theaterschauspieler, alles Selbstvertrauen verloren. Als er auch noch von seiner Frau verlassen wird, kehrt er der Bühne endgültig den Rücken zu und beginnt eine scheinbar unmögliche Beziehung mit der lesbischen Tochter eines Jugendfreundes. Doch was zunächst wie ein belebender Trost aussieht, erweist sich als Flucht vor der Wirklichkeit. Philip Roth erzählt in seinem Roman vom Schicksal eines alternden Schauspielers. Auf Simons Reise ans Ende der Nacht entblößt der in den USA lebende Autor alle menschlichen Täuschungen - Liebe und Macht, Leidenschaft und Prestige.

1997 erhielt Philip Roth für „Amerikanisches Idyll“ den Pulitzerpreis. 1998 wurde ihm im Weißen Haus die National Medal of Arts verliehen, und 2002 erhielt er die höchste Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters, die Gold Medal, mit der unter anderem John Dos Passos, William Faulkner und Saul Bellow ausgezeichnet worden sind. Philip Roth ist der einzige lebende Amerikaner, dessen Werk in einer umfassenden, maßgeblichen Gesamtausgabe von der Library of America herausgegeben wird. Bei Hanser erschienen zuletzt „Der menschliche Makel“, „Das sterbende Tier“, „Shop Talk“, „Verschwörung gegen Amerika“, „Jedermann“, „Mein Leben als Mann“, „Eigene und fremde Bücher, wiedergelesen“, „Exit Ghost“, „Empörung“und „Portnoys Beschwerden“. (jos)

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

Aufgelöst in Luft

Er hatte seinen Zauber verloren. Der Impuls war erloschen. Auf der Bühne hatte er nie versagt – alles, was er getan hatte, war stark und erfolgreich gewesen, doch dann war das Schreckliche geschehen: Er konnte nicht mehr spielen. Auf die Bühne zu treten wurde zur Qual. An die Stelle der Gewissheit, dass er wunderbar sein würde, trat das Wissen, dass er versagen würde. Es geschah dreimal hintereinander, und beim letzten Mal interessierte es niemanden mehr, es kam niemand mehr. Er erreichte das Publikum nicht. Sein Talent war tot.

Wenn man ein Talent hatte und es nicht mehr hat, bleibt einem selbst natürlich immer etwas anderes als allen anderen. Ich werde immer anders sein als alle anderen, sagte Axler sich, und zwar weil ich bin, wie ich bin. Das bleibt mir – an das wird man sich immer erinnern. Doch die Aura, die er gehabt hatte, all die Manierismen, die exzentrischen Verhaltensweisen und persönlichen Eigenheiten, alles, was bei Falstaff und Peer Gynt und Wanja so gut funktioniert und Simon Axler den Ruf eingetragen hatte, der letzte der großen klassischen amerikanischen Bühnenschauspieler zu sein, funktionierte jetzt bei keiner Rolle mehr. All das, was ihn ausgemacht hatte, ließ ihn nun auf der Bühne wie einen Verrückten aussehen. Auf der Bühne war er in jedem Augenblick auf denkbar schlimmste Weise befangen. Früher hatte er, wenn er gespielt hatte, an gar nichts gedacht. Alles, was er gut gemacht hatte, war seiner Intuition entsprungen. Jetzt dachte er über alles nach, und alles Vitale, Spontane wurde abgetötet: Er versuchte, es bewusst zu steuern, und dadurch zerstörte er es. Na gut, sagte Axler sich, er steckte in einer schlechten Phase. Er war zwar bereits über sechzig, aber vielleicht würde es vorübergehen, solange er noch erkennbar er selbst war. Er war nicht der erste erfahrene Schauspieler, dem derlei widerfuhr. Es gab viele, denen es ebenso erging. Das ist für mich nichts Neues, dachte er, ich werde schon einen Weg finden. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich es dieses Mal schaffen werde, aber ich werde schon etwas finden. Es wird vorübergehen.

Es ging nicht vorüber. Er konnte nicht mehr spielen. Die Präsenz, die er früher gehabt hatte! Jetzt graute ihm vor jeder Vorstellung, es graute ihm von morgens bis abends. Er verbrachte den ganzen Tag mit Gedanken, die er sein Leben lang nie vor einer Vorstellung gedacht hatte: Ich werde es nicht schaffen, ich werde es nicht können, ich spiele die falschen Rollen, ich habe mich übernommen, ich wirke unecht, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich auch nur den ersten Satz sprechen soll. Und dabei versuchte er, die Stunden mit hundert scheinbar nötigen Vorbereitungen zu füllen: Ich muss mir diese Passage noch einmal ansehen, ich muss mich ausruhen, ich muss üben, ich muss mir jene Passage noch einmal ansehen – und wenn er dann im Theater eintraf, war er erschöpft. Und ihm graute davor, auf die Bühne zu treten. Sein Auftritt rückte immer näher, und er wusste, dass er es nicht schaffen würde. Er wartete darauf, dass die Freiheit begann und der Augenblick Wirklichkeit wurde, er wartete darauf, dass er vergaß, wer er war, und der Mensch wurde, der dies alles tat, doch statt dessen stand er nur da, vollkommen leer, und spielte, wie man spielt, wenn man nicht weiß, was man tut. Er konnte nicht geben und nicht zurückhalten, er war weder schwungvoll noch konzentriert. Das Schauspielern wurde zum allabendlichen Versuch, sein völliges Unvermögen zu vertuschen.

© Carl Hanser Verlag ©

Literaturangabe:

ROTH, PHILIP: Die Demütigung. Carl Hanser Verlag, München 2010. 137 S., 15,90 €.

Weblink:

Carl Hanser Verlag


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