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Kinder des linken Terrors

Walter Veltronis Roman „Die Entdeckung des Sonnenaufgangs“

© Die Berliner Literaturkritik, 10.03.10

STUTTGART (BLK) – Erstmalig in deutscher Übersetzung (Annette Kopetzki) liegt der Erfolgsroman des italienischen Schriftstellers und Politikers Walter Veltroni „Die Entdeckung des Sonnenaufgangs“ vor.

Klappentext: Giovanni Astegno fristet ein beschauliches Dasein als Archivar und Familienvater. Die Geburt seiner Tochter Stella, die am Down-Syndrom leidet, stellt seine Ehe mit der erfolgreichen Geschäftsfrau Giulia und den Zusammenhalt der Familie, zu der auch der 20-jährige Sohn Lorenzo zählt, auf die Probe. Als Giulia, Stella und Lorenzo nach Amerika fahren, beginnt Giovanni sich als Vater und Ehemann zu hinterfragen. Er nutzt die Tage, um die Orte seiner Jugend zu besuchen. In dem alten Ferienhaus der Familie hat er die fixe Idee, bei der Telefonnummer seiner Kindheit anzurufen. Ab hier inszeniert Walter Veltroni furios die fantastische Begegnung mit der eigenen Kindheit und dem rätselhaften Verschwinden seines Vaters. Es beginnt eine spannende Entdeckungsreise mit verblüffendem Ausgang.

Walter Veltroni ist Politiker und Journalist. Er wurde 1955 in Rom geboren. Veltroni ist Mitbegründer des Partitio Democratico und wurde 2007 zum Vorsitzender (Segretario) ernannt.

Leseprobe:

©Klett-Cotta Verlag©

Heute ist es ein eher schlichter Sonnenaufgang. Seit meine innere Uhr mich regelmäßig bei Tagesanbruch weckt, habe ich mir angewöhnt, die Dämmerung nach ihren Eigenschaften zu klassifizieren. Ich studiere ihre Unterschiede im Lauf der Jahreszeiten, um diejenigen Farbkombinationen, Sonnenstände zu bestimmen, die mir die liebsten sind. Jede von ihnen hat eine andere, ganz eigene Bedeutung. Dennoch findet die Morgendämmerung wenig Beachtung. Keine Enzyklopädie beschäftigt sich ausführlich mit ihr. Sie gilt lediglich als Maßeinheit für die vergehende Zeit, als ein unsichtbarer, leichtfüßiger Wanderer. Das ist ein Irrtum. Die Sonnenaufgänge, die ich seit einem Jahr täglich beobachte, sind Vorboten Gottes. Sie sind Stille und Erhabenheit, Innehalten und Warten, Anfang und Ende, Tradition und Wandel. Ich betrachte sie wie eine mögliche Welt voller Farben. Doch hier oben auf dem Dachboden, meinem Zufluchtsort gleich nach dem Aufwachen, sind wir nicht allein, die Dämmerung und ich. Wir haben Gefährten: den Atem meiner Frau hinter der geöffneten Schlafzimmertür, das regelmäßige Zähneknirschen meiner Tochter und eine leise Musik aus den Kopfhörern des iPod, den mein Sohn vor dem Einschlafen nicht mehr ausgemacht hat. Dazu schalte ich den Fernseher an und lasse ihn als schräg einfallenden Lichtstrahl stumm laufen. Manchmal schweifen meine Blicke umher, und in dieser morgendlichen Frische meine ich, den Sinn unseres Zeitmaßes zu erkennen. Die Offenheit der Morgendämmerung, ihre Farben, die etwas ankündigen, vorhersehen, vortäuschen. Eine Zeitspanne, die leise als Hoffnung empfunden wird. Doch dann diese Farben von der Seite, grell wie ein Schrei. Ich sehe das Rot des Blutes und den Farbbrei der Wracks explodierter Autos. Ich sehe das blaue Meer, das eine graue Masse geworden ist und sich zu einer einzigen, gewaltigen Welle auftürmt. Ich sehe das fahle Himmelblau der zerschlissenen Kostüme von Tänzerinnen, die nicht tanzen.

Was ist schon die Wirklichkeit? Was zuerst da ist, wie die Morgendämmerung, oder was danach kommt, wie das Fernsehen? Ich mache eine schwierige Phase durch, denn ich bin Sonnenaufgang und -untergang, Hoffnung und Enttäuschung zugleich. Die Zeit entgleitet mir, und wenn ich zurückblicke, denke ich, dass mein Leben zwar richtig, aber dürftig gewesen ist. Dass meine Morgendämmerung und die Welt, die sie erhellt, von mir hätten mehr verlangen können.

Seit Jahren beschäftige ich mich im Staatsarchiv mit dem Sammeln, Katalogisieren, Lesen und Zusammenfassen von Tagebüchern. Unentwegt schreiben meine Mitmenschen Tagebücher, kleine Werke, oft auf eigene Kosten gedruckt. Jeder von ihnen verspürte an einer bestimmten Station seines Lebens das Bedürfnis, davon zu erzählen. Es auf diese Weise zu verewigen, es groß zu machen, denn Papier widersteht der Zeit, und die Sprache macht ein Leben einzigartig. Nicht als Aufzählung belangloser Tage, sondern als logische Abfolge von Ereignissen, wahre Ereignisse vielleicht, vielleicht auch erfundene. Selbst eingebildete Erinnerungen können gewichtig sein wie tatsächliche Ereignisse, die sich ins Gedächtnis geprägt haben. Sie sind Kon strukte des Willens, Reue über Versäumtes, die das Ungetane in etwas verwandeln, das man tatsächlich getan hat. Diese Tagebücher erzählen Geschichten von kleinen Helden, von verlorenen Illusionen, von vergeblich verfolgten Träumen. Geschichten von Ehefrauen und Kommilitonen, von Söhnen und Abteilungsleitern, von viel zu früh verlorenen Freunden, von treuen Tieren und von unverzichtbaren Fotos. Kleine Geschichten in der großen Geschichte. Das gefiel mir, als ich mit dieser Arbeit begann. Viele Leben nachzuleben. Wahre Leben, keine erfundenen wie in Romanen. Ich habe hunderte von Tagebüchern gelesen, tausende Menschen kennengelernt, Freud und Leid mit ihnen geteilt. Ich bin Vater gewesen, Sohn, Kampfgefährte, Banknachbar, Reisebekanntschaft, Zirkusartist, Mechaniker, Sportler und Märtyrer. Tausende Leben habe ich mitgelebt, während ich mein eigenes suchte. Aus diesen Seiten, die ich allein bei leiser Klaviermusik las, erwartete ich Trost und Antworten. Ich suchte nach Präzedenzfällen für mein eigenes Leben, die umgekehrten Morgendämmerungen. In all diesen schlichten, nach historischem Zeitraum, Themen und geographischem Umfeld geordneten Büchlein ent deckte ich die Stimmen, die zu meinem Leben sprechen und mir Rat geben sollten, wenn ich keinen Halt fand.

Im Tagebuch einer Mutter, unter dem Stichwort »Kummer« eingeordnet, fand sich die detaillierte Beschreibung des Tages, an dem ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert wurde und alle Sicherheiten zu Staub zerfielen. In den Worten dieser unbekannten, mir aber so nahen Frau habe ich Antworten auf mein eigenes Beben gefunden. Um die Mitte der sechziger Jahre bekam sie ein Kind. Dieses Kind sollte ihrem Leben Sinn verleihen. Es sollte ihr das Gefühl geben, zu leben, statt nur durch die Zeit zu gehen. Doch mit Andrea, ihrem Sohn, stimmte etwas nicht. Den Ärzten fiel es schwer, sie davon zu überzeugen, dass von jetzt an ein anderes Leben auf sie wartete als jenes, das sie sich in den neun Monaten der Schwangerschaft ausgemalt hatte. Es nennt sich Downsyndrom und ist eher ein Zustand als eine Krankheit. In ihrem Tagebuch berichtete die Frau auf vielen Seiten von ihrer ganz besonderen Liebe zu Andrea. Offen beschrieb sie ihre Wut und Trauer, die Demütigungen und Ängste im Park, bei den Kinderspielen, in der Schule, beim Sport. Andrea wurde von Unschuldigen gequält. Seine Altersgenossen flohen vor ihm, sie verstanden ihn nicht. Und Andrea fühlte sich immer einsamer. Er wuchs heran, wurde zunehmend empfindlicher und trauriger. Niemals ging er alleine aus dem Haus.

©Klett-Cotta Verlag©

Literaturangabe:

VELTRONI, WALTER: Die Entdeckung des Sonnenaufgangs. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010. 155 S., 17,90 €.

Weblink:

Klett-Cotta Verlag


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