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Die Freiheit zu sterben

Wolfgang Prosingers „Tanner geht – Sterbehilfe, ein Mann plant seinen Tod“

© Die Berliner Literaturkritik, 07.01.09

 

Tanner ist gegangen. Seinem Ex-Freund hat er sein Vermögen vererbt, alles ist geregelt, keiner soll Arbeit mit ihm, Tanner, haben. Den Ort für sein Grab hat er zuvor bestimmt, den Text für die Todesanzeige selber geschrieben. Ulrich Tanner, 51, fuhr ins Schweizerische Schwerzenbach, zog sich einen blauen Pullover an und trank das in Wasser aufgelöste Natrium-Pentobarbital. Er sagte: „Es wirkt“, schlief ein und starb.

Ulrich Tanner hat sein Leben beendet – freiwillig und mit Absicht. Weil er die Schmerzen nicht mehr aushielt. Parkinson, Aids, Krebs. Jahrelange Kämpfe, Operationen, nicht wirkende Medikamente. Am 25. Februar 2008 war damit Schluss. Wolfgang Prosinger, Leiter der Seite Drei des Berliner Tagesspiegel, hat Ulrich Tanner (der in Wirklichkeit anders heißt) in den Monaten vor seinem Tod begleitet. Seine Gespräche mit dem Todkranken sind die Grundlage für das jetzt erschienene Buch „Tanner geht. Sterbehilfe – ein Mann plant seinen Tod“.

Um es vorweg zu nehmen: Dieses Buch ist eine Bereicherung für den deutschen Buchmarkt. Es ist nicht nur das Portrait eines Sterbenden, es ist das Portrait einer Gesellschaft, die nach Werten fragt und mit Halbwissen antwortet. Auch Wolfgang Prosinger kann aus seinen Lesern keine Experten machen. Dafür sind 176 Seiten zu knapp. Aber das ist auch nicht Sinn dieses Buches. Ulrich Tanner hat Wolfgang Prosinger in den letzten Wochen seines Lebens ganz nah an sich herangelassen, weil er die Öffentlichkeit über das Warum für seine tödliche Entscheidung informieren wollte. Seine Geschichte dürfte die Theoretiker unter den Debattierenden um die begleitete Sterbehilfe zum Schweigen bringen.

Prosinger hat ein Tabuthema angestoßen. Und er hat Antwort auf die Frage, ob die Selbstbestimmung eines Menschen an seinem Totenbett enden soll: Tanner gibt sie. Mit seiner Geschichte, mit der Schilderung seines Lebenskampfes. Nur wie man die Antwort auslegt, das überlassen er und Prosinger dem Leser. Der Autor gibt ihm dazu Basiswissen an die Hand, das einordnen hilft. Was sind die Unterschiede von Beihilfe zur Selbsttötung, Aktiver, Passiver und Indirekter Sterbehilfe? Wer steht hinter dem Verein Dignitas? Und was sagen Ärzte, Politiker und Geistliche dazu, wenn Menschen Hilfe beim Sterben wollen?

Mit einer Mischung aus Reportage und nüchternem Faktenbericht erzählt Prosinger den langen Weg des Ulrich Tanner in sein Sterbezimmer. Von der ersten Idee, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, über die Befürwortung durch die Organisation Dignitas (in Deutschland Dignitate) und den Moment, in dem Tanner „grünes Licht“ für eine „Freitod-Begleitung in der Schweiz“ erhält, bis zu seinem Tod.

Ein umstrittener Tod. Einerseits, weil die Selbsttötung an sich moralische und religiöse Fragen aufwirft, und andererseits, weil der Schweizer Verein Dignitas seit Jahren für seine Arbeit kritisiert wird. Vom Sterbetourismus ist die Rede, weil jede Hilfe zur Selbsttötung in Deutschland verboten ist, und Todkranke in die Schweiz zum Sterben fahren. Dignitas wird vorgeworfen, sich am Leid und am Tod anderer Menschen aus ganz Europa zu bereichern. Was davon Fakt ist und was nicht, darüber urteilt Wolfgang Prosinger nicht. Er lässt die Beteiligten selbst zu Wort kommen: Gegner und Befürworter der begleiteten Selbsttötung und Mitarbeiter von Dignitas.

Man könnte Prosinger vorwerfen, dass er keine klare Stellung bezieht, es bei einem ausgewogenen Pro- und Contraspiel belässt. Man könnte. Aber man sollte es nicht. Denn gerade dadurch, dass Prosinger sich mit seiner persönlichen Meinung und Argumentation zurückhält, bekommt sein Buch Bedeutung: Dem Leser bleibt die Möglichkeit, sich selbst ein Bild davon zu machen, ob er die Beihilfe zur Selbsttötung gutheißt oder nicht.

Kirchen und Ärzte beziehen eine eindeutige Position zur begleiteten Selbsttötung – will man meinen. Beide sprechen sich in der Tat mehrheitlich dagegen aus, vehement, jeder mit eigenen Begründungen. Und dennoch gibt es eine Vielzahl Geistlicher und Ärzte, die es befürworten, einem Menschen die Entscheidung über den Zeitpunkt seines Todes zu überlassen – nicht der Natur, nicht Gott, nicht Apparaten. Ein Richtig und Falsch kann es in dieser Debatte vermutlich nie geben. Vielleicht aber zumindest das Verständnis für einen Sterbewilligen.

Das Buch ist gleichsam das Vermächtnis eines Mannes, der sich gegen alle Widerstände von Staat, Ärzten, Freunden und Gesetzen gestemmt hat, um über seinen eigenen Tod zu bestimmen. Mit Wolfgang Prosinger hatte er einen Journalisten an seiner Seite, der nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich ein hervorragendes Buch geschrieben hat. Wenn Prosinger über Tanner schreibt, dann ist da etwas Unmittelbares. Er leuchtet das Leben seines Protagonisten aus, bis nichts als ein menschliches Drama übrigbleibt. Prosinger schreibt romanhaft, beinahe prosaisch – und bricht seine Erzählung bewusst mit Faktenberichten.

Tanner ist gegangen. Seine Geschichte wird bleiben. Und der Selbsttötungs-Debatte vielleicht einen ganz konkreten, ganz pragmatischen, vor allem aber menschlichen Impuls geben.

Von Ariane Stürmer

Literaturangaben:
PROSINGER, WOLFGANG: Tanner geht. Sterbehilfe – ein Mann plant seinen Tod. S. Fischer, Frankfurt am Main 2008. 176 S., 16,90 €.

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