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„Die Geschichte qualmt noch“

In Halle wurde Erich Loests Theaterstück über die Wende uraufgeführt

© Die Berliner Literaturkritik, 30.10.09

Von Petra Buch

HALLE (BLK) - Am Ende verharrten Publikum und Darsteller in totaler Stille: Minutenlang war der Fall der Mauer vor 20 Jahren im Kulturzentrum „Volkspark“ in Halle am Donnerstagabend bei der Uraufführung des Wende-Stückes „Ratzel hat ein Ziel vor den Augen“ von Erich Loest für jeden hautnah. Originalfilmaufnahmen mit jubelnden Menschenmassen am Brandenburger Tor flimmerten im Saal über eine Mauer aus Styroporplatten. Anschließend gab es viel Beifall von den rund 200 Zuschauern für das Wende-Stück des Leipziger Schriftstellers („Nikolaikirche“), aber auch kritische Stimmen im Publikum.

Loest gratulierte den fünf Schauspielern, die in mehreren Rollen auftraten, zu der „außerordentlich lebendigen Inszenierung“. Diese oblag dem freien Regisseur Volker Dirkes, der auch die Hauptrolle des fiktiven Leipziger Sekretärs der SED-Bezirksleitung Dieter Ratzel übernahm. Der Bonze tritt ignorant und arrogant gegenüber dem Protest, so auch der 70 000 Menschen am 9. Oktober 1989 in der Messestadt, auf. Als „Idioten“, „Montagsmob“, „Schreihälse“ und „Kerzchenhalter“ beschimpft er an seinem Schreibtisch das Volk, das nach Freiheit ruft, und nennt Kurt Masur, eine der Symbolfiguren der friedlichen Revolution, „Kapellmeister“.

Egon Krenz (Klaus-Dieter Bange) gibt im FDJ-Hemd von der Empore, unter dem Kopfnicken Ratzels und seiner Genossen mit „rotem Blut“, die Losung „Dialog, Dialog und nochmals Dialog“ aus. Damit sich „alle mal so richtig ausquatschen sollen.“ Später stellt Ratzel für sich fest: „Der Zug ist abgefahren“, „ich werde mich rechtzeitig vom Acker machen“ und wittert seine Chance - als Immobilienberater und Rechtsanwalt. Er trägt denselben Anzug wie früher, doch statt roter Krawatte ziert ein roter Schal den Hals. Mit Ex-Genosse (Helge van Hove) bestellt er statt „Hackepeterbrötchen“ am Stehtisch mit weißem Tischtuch ein Gourmetmenü, ein weiteres SED-Mitglied ist nun Abgeordneter.

Seine Kinder will Ratzel, gemäß dem Lied „Du hast ja ein Ziel vor den Augen ...die Welt kann ohne dich nicht sein“, auf ein Internat nach England schicken. „Dafür sind wir schließlich auf die Straße gegangen“, fügt schamlos Ehefrau Betty (Antje Poser) im Glitzerfummel hinzu.

Bürgerrechtler Frank Eigenfeld aus Halle fand das Stück „gut“, jedoch sei „noch einiges mehr zu bedenken“. Eine Rentnerin aus Halles westdeutscher Partnerstadt Karlsruhe war die Inszenierung angesichts der Dramatik der Ereignisse „etwas zu brav“, sie hätte „etwas Härteres und mehr Kritik“ erwartet. Für Loest ist mit dem Stück, das sich auf einen Strang seines aktuellen Romans „Löwenstadt“ zur jüngeren deutschen Geschichte bezieht, das Thema Wende längst nicht aufgearbeitet: „Die Geschichte qualmt noch.“


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