Werbung

Werbung

Werbung

Die Gewalt der Vergangenheit

Ein Holocaust-Überlebender resümiert sein Leben

© Die Berliner Literaturkritik, 29.06.09

MÜNCHEN (BLK) – Im Juni 2009 ist im Luchterhand Literaturverlag Marcel Mörings Roman „Der nächtige Ort“ erschienen.

Klappentext: In der niederländischen Kleinstadt Assen scheint in einer warmen Juninacht in den achtziger Jahren der ganze Ort auf den Beinen zu sein, überall finden Sommerfeste statt. Auch der gut sechzigjährige Jakob Noach ist unterwegs, und er resümiert in dieser Nacht sein Leben. Er ist Jude, und er hat als Einziger seiner Familie den Zweiten Weltkrieg überlebt, weil er sich drei Jahre lang in einem Erdloch versteckt hat. Danach hat er versucht, durch Arbeit und das Streben nach Wohlstand und Reichtum die Leere in seinem Leben zu füllen. Nun gehört er zwar zu den größten Unternehmern der Stadt, doch er muss sich eingestehen, dass er seiner eigenen inneren Hölle nie hat entfliehen können. Hat er seine Frau je geliebt? Was ist mit seinen drei Töchtern, auf die er so stolz ist? Jakobs Führer durch die Nacht ist ein Hausierer, der sich als Jude von Assen vorstellt und merkwürdig viel von seinem Leben weiß. Und noch ein anderer Außenseiter geistert neben den feiernden Nachtschwärmern durch den Ort: Marcus Kolpa, der aus der Großstadt in seinen Heimatort gekommen ist, weil er Chaja wiedersehen will, Jakobs jüngste Tochter und Marcus’ erste große Liebe.

Marcel Möring, geboren 1957 in Enschede, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Literaten der Niederlande. Für seinen ersten Roman „Mendel“ erhielt er 1991 den wichtigsten Debütpreis des Landes, den Geertjan-Lubberhuizen-Preis, und weitere Romane wurden mit dem AKO-Literaturpreis, der Goldenen Eule und dem Flämischen Literaturpreis ausgezeichnet. Sein neuestes Werk „Der nächtige Ort“ wurde 2007 mit dem Ferdinand-Bordewijk-Preis zum besten niederländischen Roman des Jahres gekürt. Möring lebt mit seiner Familie in Rotterdam. (köh/mül)

Leseprobe:

©Luchterhand©

… und als er hier aus dem Moor kommt nach drei Jahren Maulwurf in einem Loch nach drei Jahren fast schwarz nein braun wie ein frischer Pferdeapfel er glänzt in der Maisonne wenn die Sonne auf seine Haut scheint schimmert er wie Pferdescheiße wie ein frisch poliertes Büfett und er geht halb krumm falls man das Gehen nennen will sein Gehen und die Sonne sticht ihm in die Augen die Augen tränen von den Stichen der Sonne in seinen Augen nach drei Jahren und als er nun aus dem Moor kommt und sich aufrichtet und die Maiwolken am briefpapierblauen Himmel sieht sind da die Häuser am Smilder-Kanal der gerade Waldrand eine bleierne Mauer die etwas verbirgt was er allzugut kennt und in seinem Kopf ist nur ein Gedanke ein Gedanke aber der will bleiben ein Gedanke der klopft und pocht wie ein eiternder Finger ein Gefühl das sein Herz einschnürt seine Finger krümmen sich nur um ein Ding das er festhalten will und zerdrücken den Saft herausquetschen bis das Leben entweicht Gott …

Ein Gedanke, und das ist Rache. Er will rächen. Alles rächen. Er will den Strick der seine Hose hochhält wegreißen die Erde beiseite fegen und den gottverdammten Acker dieser gottverdammten Bauern vögeln um sich zu rächen. Die erstbeste breitbusige blonde rotbackige Bäuerin in eine Furche stoßen und während ihr Gesicht in der fetten Erde liegt und der Speichel aus ihrem Mund läuft und sich mit dem schwarzen Boden vermischt in den Arsch ficken.

Er will brandschatzend und plündernd durch Dörfer und Felder reiten und wie eine rachedurstige schwarze Gestalt auf einem fahlen Pferd dieses Land in Asche legen bis nichts bleibt als Schwefel und Pech die verkohlten Stümpfe von Häusern die rauchenden Fundamente von Bauernhöfen aufstaubende dürre Felder und gedunsene Leiber und violette Kadaver am Wegesrand.

Aber so läuft das nicht. Ein Jagdflugzeug schießt über ihn hinweg, das mit den Flügeln grüßt. Die Kennzeichen der Royal Air Force ein Schimmer von Blau und Weiß und Rot. In der Ferne schreit ein Schwein. Kinder in blauen Overalls angeln im schwarzen Wasser. Löwenzahn steht gelb am grasigen Wegrand. Ein Arbeitspferd trabt mit gebogenem Hals über eine Wiese.

Kurz vor Mittag stiehlt er ein Fahrrad, das hinter einer Scheune steht, und ohne sich nach den schreienden Knechten umzusehen, die auf dem Feld arbeiten, tritt er in die Pedale, den Kanal entlang, Richtung Stadt. Er fährt. Er fährt den langen, geraden Kanal entlang, seine einzige Erinnerung an die Jahre als Maulwurf im Loch schlägt ihm in der Jackentasche ans Bein. Er fährt. Zum erstenmal seit drei Jahren fährt er Rad, und der Wind weht ihm durch die verfilzten Locken, und seine Augen tränen, und seine Beine tun weh, und er fährt und er fährt und er fährt. Und als er sich nach einer halben Stunde der Stadt nähert, bremst er, um sich ein letztes Mal umzusehen, und das Sonnenlicht, sanftgelbweitweg, Balsam für die harten Linien der Landschaft, flutet ihm übers Gesicht und in die Augen und durch das Haar, und in der Ferne, wo das dunkle Wasser des langen Kanals am Horizont verschwindet und die Straße und das Häuserband erst blau werden und dann grau und dann verschwimmen, dort, wo er drei Jahre lang wie ein Maulwurf in einem Loch im Moor gelebt hat, wie ein Wurm in der Erde, und drei Jahre lang Erde, Moor, Torf, braunes Wasser, seine gottvergessene Seele gerochen hat, da ragt der hohe Himmel auf wie eine Mauer von sommerlichem Blau, ein Klischee von Glück und Erfolg und schönen Erinnerungen andamalsalswirnochganzjungwarenunddieweltgut, und ihm kommt die Galle hoch, eine Bitterkeit steigt auf, und zu seiner Überraschung muss er sich zur Seite beugen, um eine silbrige Schliere aus seinem leeren Magen zu kotzen, genau neben die mit Schnur zugebundenen Schuhe, ein glitzernder Salamander im Staub der Straße.

Nie wieder. In der Stadt fährt er durch ein Netz erstaunter Blicke. Fahnen hängen aus den Fenstern, orangefarbene Wimpel wedeln im milden Frühlingslüftchen, irgendwo flappt ein halb abgerissener Anschlag an einer Mauer. Das Haus und der Laden kommen in Sicht, und es wird still um ihn. Es ist, als würde die Luft weggesogen. Die Bäume hören auf zu rauschen, und die Holzreifen seines Fahrrads rattern nicht mehr über das Kopfsteinpflaster. Nichts bewegt sich mehr. Als würde er durch einen Guckkasten fahren.

Und dann sieht er es. Dort, wo früher auf einem rotbraunen Holzschild über beiden Schaufenstern mit dem ostentativen Stolz desjenigen, der lange gekämpft und schließlich gesiegt hat, in pseudomittelalterlichen Lettern, die eine Arriviertheit vortäuschten, die es nicht gab, dort, wo einst sein Name und der seines Bruders, seines Vaters und seiner Mutter gestanden hat Abraham Noach Schuhe (auch Reparatur) brabbelt jetzt fast unleserlich gotisch: Völkische Buchhandlung Hilbrandts. Er steht über der Stange seines Fahrrads, das nicht sein Fahrrad ist, und schaut auf das rote Schild mit den schwarzen Buchstaben. Mit offenem Mund. Völkischegottverdammtebuchhandlung?

Auf dem braunen Samt in der Auslage keine Knabenstiefel aus Juchtenleder, glänzende Oxfords, solide Brogues oder elegante Pumps, sondern eine Zeitschrift, die De Schouw heißt, ein Blättchen mit Eselsohren und einem Umschlag, auf dem in hartem Schwarzweiß die unbeugsame Kinnlade eines germanischen Musterarbeiters glänzt. Daneben ein Buch, das den unwirklichen Titel Mutter, erzähl mal was von Adolf Hitler! trägt, und ein paar tote Fliegen, die an der Schaufensterscheibe liegen.

Das Geschäft seines Vaters, das sein Großvater gegründet hatte, damals nur die Hälfte des Hauses, ein schäbiger kleiner Laden, in dem arme Leute ihre armen Schuhe von einem armen Schuhmacher flicken ließen, eine dunkle Werkstatt, in der alle Wände mit Regalbrettern bedeckt waren, vollgestellt mit Schuhen, Stiefeln, hier und da sogar einer Holzpantine, die mit einem Metallband beschlagen werden musste. Hinter der sattbraunen Ladentheke hatte sein Großvater auf einem Dreibein geklopft, gehämmert, geschnitten, genäht und gefeilt. Da stand eine Steppmaschine, die mit einem Fußpedal angetrieben wurde, irgendwann 1915 oder 16 erstanden, und eine so große Anschaffung, dass sie jeden Abend blitzblank geputzt werden musste, bis das Messing blinkte und das schwarz lackierte Gusseisen schimmerte wie ein neuer Ofen. Oh, wenn er jetzt die Augen schlösse, dann würde er das schwere Schwungrad der Maschine surren hören, und der klebrige Geruch des Leimtopfs auf dem Ofen erwachte in seinem Hinterkopf zum Leben. Gerade und krumme Messer, über einem Stock hängende Pechdrähte, Leisten, Pfrieme, abgerundete, stumpfe und spitze Hämmer, Ochsenhaut, um Sohlen zu machen, duftende Stapel von Kalbs-, Pferde- und Ziegenhäuten für das Oberleder, krumme Nadeln, gerade Nadeln, runde, dreieckige, dicke, dünne, kurze und lange Nadeln, Anilin und Bienenwachs, Talg und Creme, fettige Schafswolle, Flanellappen, Pferdehaarbürsten, eiserne Schaber. Und die Stimme seines Großvaters, der leise, am Faden zwischen seinen Zähnen vorbei, ein Lied sang …

Az der rebbe Elimelech is g’vor’n seer freilach … Eine gottverdammte völkische … Er steht in der unvorstellbaren Stille der schummrigen Buchhandlung, wo sich hinter dem Geruch von Papier und Leinen eine schwache olfaktorische Erinnerung an Schuhe verbirgt und das Bimmeln der Ladenglocke noch nachhallt, und betrachtet, was eine List des Lichts zu sein scheint, aber doch keine ist. Schritte er tönen auf dem dunklen Flur zwischen der Wohnung und dem Laden, und aus dem Schatten tritt ein mürrisch dreinschauender Mann in Weste und Hemdsärmeln. „Wir haben zu.“ Jakob Noach starrt dem Mann ins Gesicht mit einem Blick, der nur leer genannt werden kann: keine Spur von Reaktion, keine Emotion, kein Ausdruck, Augen, leer wie die Schöpfung, bevor der Allmächtige die Ärmel aufkrempelte und etwas daraus machte.

Stille hängt zwischen ihnen, eine gazeschleierartige Stille, die den Raum dicht und diffus macht und ihm etwas in Erinnerung ruft, das er nicht kennt. Seine Gedanken reisen durch die Landschaft seiner Vergangenheit. Wie scharf alles ist … das Licht, das durch die staubigen Fenster fällt, über die Theke streicht und einen seidenweichen Glanz auf das von Gebrauch und Zeit gerundete Holz legt … wie scharf gezeichnet die Fächer in den Schränken an den Wänden, in denen früher Schuhkartons standen, vom Fußboden bis zur Decke, von einer Wand zur anderen, ein Mosaik aus weißen, rosa, schwarzen, grünen, roten, braunen, blauen, malvenfarbenen und grauen Rechtecken. „Wir haben …“ „Raus. Aus. Meinem. Geschäft.“

Der Mann kneift die Augen zusammen und sieht ihn an, als habe man ihn in einer Sprache angesprochen, die keinerlei Verwandtschaft mit den ihm bekannten Sprachen aufweist. „RAUS.“ Er spricht, soweit er weiß, laut, doch was aus seiner Kehle kommt, ist ein ersticktes Ächzen, das kaum verständlich erscheint. „Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber das hier ist mein Geschäft, und …“ Jakob Noach, in der Blüte seines Lebens, klein zwar und nach den Jahren in seinem Loch im Moor unübersehbar bleich und mager, so mager, wie er es für den Rest seines Lebens eindeutig nie mehr sein wird, richtet sich auf wie ein Bär, der beim Fressen gestört wurde. Seine Brust schwillt an wie ein Blasebalg, und obwohl es zweifellos nicht so ist, scheinen sich seine Haare zu sträuben. Seine Schultern heben sich, seine kleinen, fast weiblichen Hände entfalten sich zu gewaltigen Pranken, und seine Füße fühlen sich plötzlich so fest mit der Erde verbunden, dass ihn wahrscheinlich nicht einmal eine Windhose vom Fleck bekäme.

„Jakob Noach!“ brüllt er. „Sohn von Abraham Noach! Sohn von Rosa Deutscher! Bruder von Heijman Noach! Dies Geschäft ist das Geschäft meines Vaters! RAUS!“ Der Mann betrachtet ihn durch zusammengekniffene Augen und bewegt sich kaum merklich rückwärts. Sie stehen sich gegenüber, angezogen von ihrer beiderseitigen Abneigung, abgestoßen durch eine Neugier, die sie beide anekelt. Über ihre Gesichter und durch ihre Körper züngeln winzige Muskelkontraktionen. Jakob Noachs Unterkiefer zuckt, und Völkische Buchhandlung Hilbrandts’ Rachenmuskeln beben, Jakob Noachs Zwerchfell verhärtet sich, und Völkische Buchhandlung Hilbrandts’ Oberschenkel zittern, Jakob Noachs Magen krampft und Völkische Buchhandlung Hilbrandts’ Schultern krümmen sich. „Das ist mein Geschäft“, sagt der andere Mann. „Ich weiß nichts von früheren Mietern. Ich habe immer pünktlich bezahlt.“ Jakob Noach spürt, wie ihm das Blut im Halse pocht. Er dreht sich ruckartig um und krallt die Hand um die Türklinke. Im vollen Licht der Mittagssonne blinzelt er in die Helle der Welt. Zwei Frauen gehen vorbei, die ihn nicht erkennen. Völkischegottverdammtebuchhandlung.

Er fährt und er fährt und er fährt und er fährt. Er fährt über den Gedempte Singel, nach rechts über die Brinkstraat, nach links auf den Brink, wo er das Fahrrad an die Mauer des Rathauses knallt und hineinstürmt. „Wer sind Sie?“ sagt der Beamte, den er, nach fünf anderen unerschütterlichen Beamten, endlich zu sprechen bekommt. Er nennt seinen Namen. Er nennt den Namen seines Vaters. Er würde, wenn sie noch in seinem Besitz wären, sein Pockenimpfzeugnis und seinen Personalausweis vorzeigen. Der Beamte erhebt sich, geht zu der Archivschrankreihe hinter sich, zieht eine Schublade auf und lässt seine Finger über die Mappen laufen, während er, sich mit kaum hörbaren Bemerkungen unterbrechend („Nein, der nicht. Mi, Mij, Mo, Mu. Da haben wir ihn“), ein munteres Liedchen summt. Er steckt die Nase in eine Mappe („Jajajaja. Summsumm“) und geht mit der Mappe zu einer anderen Schrankreihe, wo der Quatsch von vorn beginnt („Marktmarktmarkt, nein, da“) und schließlich ein dickes Bündel mit Karten, Bauzeichnungen und einzelnen Blättern zum Vorschein kommt.

„Hier hab ich’s schon. Nein, das Haus ist seit dem 13. November 1942 an Hilbrandts G. vermietet. Stand leer, sehe ich. Tja.“ „Es ist mein Haus.“ „Ach nein, das glaube ich nicht. Es hat einem gewissen Noach A. gehört, sehe ich hier, und Sie sind doch Noach J., meine ich mich zu erinnern. Dann brauchen wir also Herrn Noach A.“ Der Holzfußboden der Abteilung Bau- und Wohnungsaufsicht glänzt genauso sanft und braun wie die Theke im Laden. Hinter den Fenstern liegt die sonnenbeschienene Stadt, in der Menschen auf der Straße gehen und Wimpel an Häusern hängen. Das Grün, dick und schwer an den Bäumen, verspricht einen schönen Sommer.

„Es war Krieg“, sagt er. „Ja“, sagt der Beamte in einem Ton, als sei er längst in einer seiner Akten darauf gestoßen: Zweiter Weltkrieg, 10. Mai 1940–5. Mai 1945. „Ich weiß nicht, wo mein Vater ist. Ich weiß nicht, wo meine Eltern sind. Wir waren untergetaucht. Abtransportiert.“ Der Beamte wirft ihm einen vertrauensgesättigten Blick zu. „Dann heißt es abwarten, bis die Angelegenheit verwaltungsmäßig geklärt ist, aber ich kann Ihnen versichern, es kommt alles in Ordnung.“

„Ein gottverdammter NSBer sitzt in dem Haus! Das Geschäft meines Vaters … Ich wohne dort. Wir … Unser Leben. Unsere Sachen.“ Er findet nicht die richtigen Worte, und das ärgert ihn. „Dafür bin ich nicht zuständig. Das Anwesen wurde von der damaligen Behörde vermietet an …“ Er blickt in die Akte. „Hilbrandts, G.“ „Von wem?“ „Was meinen …“ „Unter welchem Beamten?“ Der Mann richtet sich kerzengerade auf, setzt eine Miene auf, die er zweifellos für offiziell und repräsentativ hält, und sagt in gemessenem Ton: „Die Behörde ist keine Person.“ „Sie …“ „Ich rate Ihnen, Einspruch gegen die Vermietung zu erheben oder einen Antrag auf Rückgabe Ihres vermeintlichen Eigentums zu stellen. Dafür ist die Unterschrift des rechtmäßigen Eigentümers … Noach, A. … erforderlich. Das ist alles. Ich habe noch mehr zu tun. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

Und keine fünfzehn Minuten später, nachdem er von zwei stämmigen, zu Amtsgehilfen umgeschulten Bauernknechten hinausgeworfen worden ist, die mit so einem mageren kleinen Jid überhaupt keine Mühe haben, springt er auf das Fahrrad, das nicht sein Fahrrad ist, und fährt und fährt und fährt und fährt und während er fährt und das Herz ihm zwischen den Ohren schlägt und das Blut hinter seine Augen presst, kehrt das Bild vom Laden zurück, wie dieser aussah, als er mitten im zweiten Kriegsjahr weißderhimmelwie aus Amsterdam zurückkam in dieses gottvergessene Scheißkaff, weil er vor Sorge um seine Eltern nicht mehr schlafen konnte, und vom Bahnhof zum Platz ging, den ganzen Körper über den Stern an seinem Mantel gekrümmt, und dort am Platz zugenagelte Fenster vorfand und eine Tür, die nicht abgeschlossen war, und drinnen, wo Schuhe und Kartons und eine unvorstellbare Menge an Papieren auf dem Fußboden verstreut lagen und still der Geruch von alter Luft hing, dort, nachdem er nach oben gegangen war, durch die leeren Räume und wieder nach unten, in den halb ausgeplünderten Laden, und auf einem Stuhl saß, den er erst hatte aufheben und hinstellen müssen, da wurde ihm klar, dass seine Eltern und sein Bruder nicht mehr da waren, und es war dunkel geworden hinter den Fenstern, die zum Platz hinausgingen, die Dächer scharfgezeichnete winklige Ränder vor dem zerreißenden blauen Himmel, ein später Vogel, der über die gleichförmige Fläche des Firmaments schoss, und auf seinem Stuhl, einem Esszimmerstuhl mit gerader Lehne und besticktem Sitzpolster, hatte er sein Gesicht in den Händen vergraben.

©Luchterhand©

Literaturangaben: MÖRING, MARCEL: Der nächtige Ort. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 560 S., 24,95 €.

Weblink:

Luchterhand Literaturverlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: